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Der Clan der Otori – Der Ruf des Reihers

Titel: Der Clan der Otori – Der Ruf des Reihers Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lian Hearn
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Zikaden.
    Wenn dies der letzte Tag meines Lebens sein sollte, könnte er schöner nicht sein , dachte der alte Mann mit einer gewissen Dankbarkeit und tastete mit der Zunge nach der Eisenhutkapsel, die an der Stelle eines ausgefallenen Backenzahns saß.
    Vor Hisaos sechzehn Jahre zurückliegender Geburt war ihm dieser Ort unbekannt gewesen – und dann hatte er fünf Jahre gebraucht, um ihn zu finden. Doch nachdem er ihn entdeckt hatte, war er ab und zu dort gewesen, ohne dass die Bewohner etwas davon geahnt hätten, und außerdem hatte ihm Taku, sein Großneffe, von Hisao berichtet. Wie fast alle Dörfer des Stammes verbarg sich auch dieses in einer schmalen Talfalte des Gebirges, war fast unzugänglich, gut bewacht und auf vielfältige Arten befestigt. Bei seinem ersten Besuch hatte ihn die Zahl der Einwohner – über zweihundert – erstaunt, aber dann hatte er herausgefunden, dass sich die ganze Kikutafamilie hierher zurückgezogen hatte, weil sie im Westen von Takeo verfolgt worden war. Nachdem man ihre Verstecke in den Drei Ländern aufgespürt hatte, waren sie nach Norden gezogen und hatten dieses entlegene Dorf zu ihrem Hauptquartier bestimmt, da es außer Reichweite von Takeos Kriegern lag, wenn auch nicht außer Reichweite seiner Spione.
    Hisao sprach niemanden an, als sie an den niedrigen Holzhäusern vorbeigingen, und obwohl mehrere Hunde freudig auf ihn zusprangen, blieb er nicht stehen, um sie zu streicheln. Als sie schließlich das größte Gebäude erreichten, hatte sich hinter ihnen eine kleine Menge versammelt. Kenji konnte die Leute flüstern hören und wusste, dass man ihn erkannt hatte.
    Dieses Haus war viel wohnlicher und luxuriöser als die umliegenden Gebäude, hatte eine Veranda aus Zypressenbohlen und massive Pfeiler aus Zedernholz. Genau wie der Schrein, den Kenji in der Ferne sehen konnte, war es mit dünnen Ziegeln gedeckt, deren sanfter, eleganter Schwung an die Dächer der Landhäuser von Kriegern erinnerte. Hisao stieg aus seinen Sandalen, ging auf die Veranda und rief ins Haus: »Vater! Wir haben einen Gast!«
    Sekunden später erschien eine junge Frau mit Wasser, um dem Gast die Füße zu waschen. Die Menge hinter Kenji verstummte. Als er das Haus betrat, meinte er, draußen ein allgemeines Atemholen zu hören, als hätten alle gleichzeitig vor Schreck gekeucht. In seiner Brust stach der Schmerz und er spürte einen Hustenreiz. Wie schwach sein Körper geworden war! Früher hatte er ihm alles abverlangen können. Mit Bedauern erinnerte er sich an all die Fähigkeiten, die er besessen hatte. Inzwischen waren sie nur noch Schatten ihrer selbst. Er sehnte sich danach, seinen Körper wie eine Hülle abzustreifen und sich in das Jenseits zu begeben, das nächste Leben, was immer nach dem Tod kam. Wenn er den Jungen nur irgendwie retten könnte … Aber konnte man jemanden vor jener Reise bewahren, deren Weg und Ziel das Schicksal bei der Geburt bestimmte?
    All dies ging ihm durch den Kopf, als er sich auf dem mit Matten ausgelegten Fußboden niederließ und auf Akio wartete. Im Raum war es dämmrig und die Schriftrolle, die rechts von ihm an der Wand hing, konnte er kaum erkennen. Die junge Frau von vorhin brachte ihm eine Schale Tee. Hisao war verschwunden, doch Kenji konnte ihn im hinteren Teil des Hauses mit ruhiger Stimme reden hören. Aus der Küche drang ein Duft nach Sesamöl herein und er hörte, wie Essen in der Pfanne brutzelte. Dann waren Schritte zu vernehmen. Die Innentür glitt auf und Kikuta Akio betrat den Raum, gefolgt von zwei älteren Männern, einer davon etwas dicklich und weichlich. Kenji war sich sicher, dass es sich bei ihm um Gosaburo handelte, den Kaufmann aus Matsue, Kotaros jüngeren Bruder und Akios Onkel. Im anderen vermutete er Imai Kazuo, der sich angeblich gegen die Imaifamilie aufgelehnt hatte, um bei den Kikuta bleiben zu können, den Verwandten seiner Frau. Alle drei Männer, das wusste Kenji, trachteten ihm seit Jahren nach dem Leben.
    Nun versuchten sie ihre Überraschung darüber zu verbergen, dass er so unerwartet erschienen war. Sie nahmen auf der anderen Seite des Raumes Platz und musterten ihn. Keiner verneigte sich, man tauschte keinen Gruß. Kenji schwieg.
    Schließlich sagte Akio: »Leg deine Waffen ab.«
    Â»Ich bin unbewaffnet«, antwortete Kenji. »Ich bin auf einer Mission des

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