Der Clan der Otori – Der Ruf des Reihers
gehalten.« Sie glaubte kurz, in Tränen ausbrechen zu müssen, aber das Gefühl verflog. »Und der Junge, der mich gerufen hat, ist Kikuta Hisao. Er ist Kenjis Enkel. Du hast in Kagemura bestimmt von ihm gehört. Seine Mutter, Yuki, war mit Akio verheiratet, aber nach der Geburt des Jungen haben die Kikuta sie gezwungen, sich das Leben zu nehmen. Genau darum hat Kenji den Stamm zurück zu Vater geführt.«
Miki nickte. Alle diese Stammesgeschichten hatte sie von Kindheit an gehört.
»Langfristig bleibt sowieso niemand unschuldig«, sagte Maya. »Es war das Schicksal des Mannes, dort zu sein, wo er gerade war.« Sie starrte trübsinnig auf den Teich. Auf seiner stillen Oberfläche spiegelten sich dieÃste der Zedern und die Wolken dahinter. »Hisao ist unser Bruder«, brach es aus ihr heraus. »Alle glauben, er wäre Akios Sohn, aber das ist falsch. Er ist Vaters Sohn.«
»Das kann nicht stimmen«, sagte Miki mit schwacher Stimme.
»Doch, es stimmt. Und es gab eine Prophezeiung, laut der Vater nur von seinem eigenen Sohn getötet werden kann. Daher wird Hisao Vater töten, auÃer, wir halten ihn auf.«
»Und was ist mit unserem kleinen Bruder?«, flüsterte Miki.
Maya starrte sie an. Sie hatte die Existenz des neuen Kindes fast vergessen, als glaubte sie, es verschwinden lassen zu können, wenn sie seine Geburt leugnete. Sie hatte das Baby noch nie gesehen und auch nie daran gedacht. Ein Moskito lieà sich auf ihrem Arm nieder und sie erschlug ihn.
»Vater muss all das doch wissen«, sagte Miki.
»Wenn er es weiÃ, warum hat er dann nichts dagegen unternommen?«, erwiderte Maya und fragte sich, warum sie plötzlich so wütend war.
»Wenn er beschlossen hat, nichts zu unternehmen, sollten wir es auch so halten. AuÃerdem: Was könnte er schon tun?«
»Er hätte Hisao töten sollen. Das hat Hisao sowieso verdient. Er ist böse, der böseste Mensch, dem ich je begegnet bin, noch böser als Akio.«
»Aber was ist mit unserem kleinen Bruder?«, fragte Miki noch einmal.
»Hör doch auf, die Sache so kompliziert zu machen,Miki!« Maya stand auf und bürstete sich den Staub von den Kleidern. »Ich muss pissen«, sagte sie, indem sie die Sprache der Männer benutzte, und ging ein Stückchen tiefer in das Gehölz. Dort standen bemooste und vernachlässigte Grabsteine. Da Maya sie nicht entweihen wollte, stieg sie über die seitliche Mauer des Schreins, in deren Schutz sie sich erleichterte. Als sie wieder zurückkletterte, bebte die Erde und sie spürte, wie die Steine unter ihren Händen wegrutschten. Sie wäre um ein Haar gestürzt, weil ihr kurz schwindelig war. Die Wipfel der Zedern zitterten noch. In diesem Moment spürte sie ein tiefes Verlangen, die Katze zu sein, und sie empfand noch etwas anderes, das sie nicht einordnen konnte und das sie beunruhigte und belastete.
Als sie die ruhig am Teich sitzende Miki erblickte, wurde ihr schlagartig bewusst, wie dünn ihre Schwester geworden war. Auch das irritierte sie. Sie hatte keine Lust, sich Sorgen um Miki machen zu müssen. Sie wollte, dass alles wie früher war, als die Zwillinge immer einmütig gewesen waren. Sie wollte nicht, dass Miki ihr widersprach.
»Komm«, sagte sie. »Wir müssen weiter.«
»Wie lautet unser Plan?«, fragte Miki, als sie aufstand.
»Ist doch klar: Wir gehen nach Hause.«
»Sollen wir den ganzen Weg zu Fuà zurücklegen?«
»Hast du eine bessere Idee?«
»Wir könnten jemanden um Hilfe bitten. Ein Mann namens Bunta hat Shizuka und mich begleitet. Er würde uns helfen.«
»Ist er ein Muto?«
»Imai.«
»Wir können niemandem mehr vertrauen«, sagte Maya voller Abscheu. »Wir müssen auf eigene Faust zurückkehren.«
»Der Weg ist weit«, sagte Miki. »Zu Pferd haben wir eine Woche von Yamagata gebraucht, und wir sind ganz offen gereist und hatten zwei Männer dabei. Auf der StraÃe dauert es zehn Tage von Yamagata bis Hagi. Wenn wir zu Fuà gehen und uns auch noch verstecken, werden wir dreimal so lange brauchen. Und wie kommen wir an Essen?«
»Wie vorhin«, sagte Maya und berührte das verborgene Messer. »Wir stehlen es.«
»Na, gut«, sagte Miki, die nicht sehr glücklich darüber zu sein schien. »Sollen wir die StraÃe nehmen?« Sie zeigte auf die staubige StraÃe, die
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