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Der Clan der Otori – Der Ruf des Reihers

Titel: Der Clan der Otori – Der Ruf des Reihers Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lian Hearn
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jemand beigebracht.«
    Die Sonne war links von ihnen hinter den Berggipfeln versunken. Die Nacht würde mondlos sein, und die tief hängenden Wolken, die von Süden aufzogen, würden auch die Sterne verhüllen. Die Mädchen hatten das Gefühl, als wäre es lange her, dass sie die Reisbälle beim Schrein gegessen hatten. Beim Gehen begannen sie instinktiv, nach Nahrung Ausschau zu halten: frühe Pilze unter Kiefern, Weinbeeren, zarte Bambusschösslinge, die letzten Farnblätter, obwohl sich diese schon rarmachten. Der Stamm hatte sie von Kindheit an gelehrt, von dem zu leben, was das Land bot, und Blätter, Wurzeln und Früchte zum Essen und zur Herstellung von Giften zu sammeln. Sie folgten dem Geräusch tropfenden Wassers und tranken aus einem Bach, in dem sie auch kleine Krebse entdeckten, die sie bei lebendigem Leib aßen, indem sie das weiche Fleisch aus der zerbrechlichen Schale saugten. So wanderten sie durch die lang anhaltende Dämmerung, bis es zu dunkel wurde. Inzwischen waren sie tief im Wald und es gab viele zerklüftete Felsbuckel und umgestürzte Bäume, die Schutz boten.
    Sie gelangten zu einer riesigen Buche, die von einem Sturm oder Erdbeben halb entwurzelt worden war. Die abgefallenen Blätter sorgten für ein weiches Bett und der dicke Stamm und die Wurzeln bildeten eine Höhle. Im Laub gab es sogar noch einige essbare Eckern. Die Mädchen legten sich hin, aneinandergeschmiegt wie Tiere. Als sie im Arm ihrer Schwester lag, spürte Maya endlich, wie sich ihr Körper zu entspannen begann. Sie hatte das Gefühl, wieder ganz bei sich anzukommen.
    Sie wusste nicht genau, ob sie die Worte sprach oder nur dachte.
    Hisao liebt die Katze und er ist ihr Herr.
    Neben ihr regte sich Miki. »Ich glaube, das wusste ich. Das habe ich vor dem Haus in Hofu gespürt: Ich habe das Band zwischen dem Jungen, der dich gerufen hat, und der Katze durchtrennt, und dann bist du wieder du selbst geworden.«
    Â»Außerdem begleitet ihn immer seine Mutter. Wenn Hisao bei der Katze ist, kann er mit ihrem Geist reden.«
    Ein leiser Schauder ging durch Mikis schmalen Körper. »Hast du sie gesehen?«
    Â»Ja.«
    Ãœber ihnen in den Bäumen rief eine Eule, und sie erschraken. In der Ferne schrie eine Füchsin.
    Â»Hattest du Angst?«, flüsterte Miki.
    Â»Nein.« Maya dachte darüber nach. »Nein«, wiederholte sie. »Sie tat mir leid. Man hat sie viel zu jung sterben lassen, und sie musste mitansehen, wie man ihren Sohn zum Bösen erzogen hat.«
    Â»Böse zu werden ist so einfach«, sagte Miki leise.
    Die Luft wurde etwas kühler und ein leises Prasseln war zu hören.
    Â»Es regnet«, sagte Maya. Bei den ersten Tropfen begann die Erde feucht zu riechen. Maya stieg der Geruch des Lebens und des Verfalls in die Nase.
    Â»Rennst du vor ihm weg? Davon abgesehen, dass du nach Hause zurückkehrst, meine ich?«
    Â»Er sucht mich und er ruft mich.«
    Â»Folgt er uns etwa?«
    Maya antwortete nicht sofort. Ihr Glieder zuckten ruhelos. »Ich weiß, dass Vater und Shigeko noch nicht da sein werden, aber Mutter wird uns beschützen, oder? Sobald wir in Hagi sind, werde ich mich vor ihm sicher fühlen.«
    Doch schon als sie die Worte sprach, wusste sie nicht genau, ob sie stimmten. Ein Teil von ihr fürchtete ihn und wollte fliehen. Ein anderer Teil wollte zu ihm zurück, sehnte sich danach, bei ihm zu sein und gemeinsam mit ihm zwischen den Welten zu wandern.
    Werde ich etwa böse? Maya fiel der Messerschleifer ein, den sie verwundet und beraubt hatte, ohne sich die Sache zweimal zu überlegen. Vater wäre wütend auf mich, dachte sie. Sie fühlte sich schuldig, was ihr missfiel, und daher ließ sie ihrer eigenen Wut freien Lauf, um ihr Schuldgefühl zu verdrängen. Vater hat mich gezeugt und erzogen. Er ist schuld daran, dass ich bin, wie ich bin. Er hätte mich nicht wegschicken dürfen. Er hätte mich nicht so viel allein lassen sollen, als ich klein war. Er hätte mir erzählen müssen, dass er einen Sohn hat. Er hätte keinen Sohn bekommen dürfen!
    Miki schien zu schlafen. Sie atmete ruhig und gleichmäßig. Ihr Ellbogen drückte sich in Mayas Seite und Maya drehte sich weg. Die Eule rief wieder. Offenbar hatten die Moskitos den Schweiß der Mädchen gewittert, denn sie summten in Mayas Ohr. Im Regen wurde ihr kalt. Fast gedankenlos verwandelte sie sich in die

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