Der Clan der Otori – Der Ruf des Reihers
Katze mit dem dicken, warmen Fell.
Sofort hörte sie seine Stimme. Komm zu mir.
Und sie spürte, wie er seinen Blick auf sie richtete, als könnte er sie von weit her im tiefen Wald und im Dunkeln sehen, als schaute er direkt in die goldenen Augen der Katze, die ihren Kopf in seine Richtung drehte. Sie streckte sich aus, legte die Ohren an und schnurrte.
Maya kämpfte darum, ihre eigene Gestalt anzunehmen. Sie öffnete den Mund und versuchte Miki zu rufen.
Miki fuhr aus dem Schlaf hoch. »Was ist los?«
Maya spürte wieder, wie Mikis Geist mit der Schärfe eines Schwertes zwischen die Katze und ihren Herrn fuhr.
»Du hast gejault!«, sagte Miki.
»Ich habe mich aus Versehen in die Katze verwandelt und Hisao hat mich gesehen.«
»Ist er in der Nähe?«
»Keine Ahnung, aber er weiÃ, wo wir sind. Wir müssen sofort hier weg.«
Miki kniete sich an den Rand der Baumhöhle und spähte in die Nacht. »Ich kann überhaupt nichts sehen. Es ist stockdunkel. Und es regnet. Wir können jetzt nicht aufbrechen.«
»Bleibst du wach?«, sagte Maya. Sie zitterte vor Kälte und Aufgewühltheit. »Du kannst irgendwie zwischen ihn und mich treten und mich von ihm befreien.«
»Ich weià auch nicht, was das ist«, sagte Miki, die schwach und müde klang. »Oder wie ich es tue. Die Katze nimmt mir so viel Kraft, dass nur noch das Harte und Scharfe übrig ist.«
Rein war das Wort, das Maya dazu einfiel. Die Reinheit des Stahls, nachdem er mehrmals erhitzt, gefaltet und mit dem Hammer bearbeitet worden war. Sie legte ihre Arme um Miki und zog sie an sich. Zusammengekuschelt warteten die Mädchen auf die Dämmerung, die das Dunkel langsam zu durchdringen begann.
Bei Anbruch des Tages hörte es auf zu regnen. Die Sonne ging auf, lieà die Erde dampfen und versah die tropfenden Zweige und Blätter mit goldenen Rändern, zauberte kleine Regenbogen in die Luft. Spinnweben, Bambusgras und Farn glitzerten und glänzten. Die Mädchen kämpften sich auf der Ostflanke des Gebirges weiter nach Norden, wobei sie die Sonne rechts liegenlieÃen. Sie durchquerten tiefe Schluchten und mussten oft wieder umkehren. Manchmal erhaschten sie einen Blick auf die unter ihnen liegende StraÃe und den Fluss dahinter. Auf der StraÃe war immer etwas los, und obwohl sie sich danach sehnten, auf ihrer glatten Oberfläche zu laufen, wagten sie dies nicht.
Gegen Mittag blieben beide zugleich wortlos auf einer kleinen Lichtung stehen. Vor ihnen begann ein Trampelpfad, der den nächsten Abschnitt ihrer Tagesreise zu erleichtern versprach. Sie hatten den ganzen Vormittag nichts gegessen und suchten schweigend das Gras ab, fanden noch ein paar Bucheckern, Moos, SüÃkastanien vom letzten Jahr, die schon frische Triebe hatten, und einige unreife Beeren. Selbst unter dem Blätterdach des Waldes war es heiÃ.
»Komm, wir ruhen uns ein bisschen aus«, sagte Miki, die ihre Sandalen auszog und die FüÃe im feuchten Gras rieb. Ihre Beine waren zerkratzt und blutig, ihre Haut hatte inzwischen die Farbe dunklen Kupfers.
Maya lag schon auf dem Rücken und betrachtete das bewegte, gold-grüne Muster der Blätter über ihr, und ihr Gesicht war mit runden Schatten gefleckt.
»Ich bin am Verhungern«, sagte sie. »Wir müssen irgendwo richtiges Essen auftreiben. Ich frage mich, ob der Pfad zu einem Dorf führt.«
Die Mädchen dösten eine Weile, aber der Hunger weckte sie. Sie zogen sich wieder die Sandalen an, auch diesmal, ohne ein Wort zu wechseln, und folgten dem Pfad, der sich über die Flanke des Gebirges schlängelte. Hin und wieder sahen sie tief unten das Dach eines Bauernhauses und glaubten, der Pfad führte sie dorthin, doch sie gelangten weder zu einer Behausung noch zu einem Dorf, ja nicht einmal zu einer abgelegenen Berghütte oder einem Schrein, und die bestellten Felder lagen unter ihnen, auÃerhalb ihrer Reichweite. Sie gingen schweigend und hielten nur an, um die kargen Früchte des Gebirges zu essen. Ihre Mägen knurrten und murrten. Die Sonne stand inzwischen hinter dem Berg, und im Süden ballten sich wieder Wolken zusammen. Beide Mädchen hatten keine Lust, noch einmal in der Wildnis zu übernachten, und der Gedanke an die vor ihnen liegenden Nächte erschreckte sie, aber sie wussten nicht, was sie tun sollten, auÃer weiterzumarschieren.
Wald und Berg lagen im Zwielicht.
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