Der Clan der Otori – Der Ruf des Reihers
sich zwischen den noch leuchtend grünen Reisfeldern auf die bewaldeten Berge zuschlängelte. Maya musterte die Reisenden, die in beiden Richtungen unterwegs waren: Krieger zu Pferd, Frauen mit breiten Hüten und Schleiern zum Schutz vor der Sonne, Mönche mit Stöcken und Bettelschalen, Hausierer, Kaufleute, Pilger. Jeder von ihnen könnte schlimmstenfalls versuchen, sie aufzuhalten, und ihnen bestenfalls unangenehme Fragen stellen. Sie konnten auch Stammesangehörige sein, die man angewiesen hatte, Ausschau nach ihnen zu halten. Maya sah zurück zur Stadt und erwartete halb, Hisao und Akio zu sehen, die sie verfolgten. Ihr Herz tat einen Satz und ihr wurde bewusst, dass sie Hisao vermisste und sich danach sehnte, ihn wiederzusehen.
Aber ich hasse ihn doch! Wie kann ich mir dann wünschen, ihn wiederzusehen?
Um ihre Gefühle vor Miki zu verbergen, sagte sie: »Obwohl ich die Kleider eines Jungen trage, kann jeder sehen, dass wir Zwillinge sind. Wir wollen nicht, dass uns die Leute anstarren und über uns tratschen. Wir gehen durch die Berge.«
»Da werden wir verhungern«, wandte Miki ein, »oder uns verirren. Lass uns in die Stadt zurückkehren. Lass uns Shizuka suchen.«
»Sie ist in Daifukuji«, sagte Maya, die sich an Norikos Worte erinnerte. »Sie fastet und betet. Wir können nicht zurück. Wahrscheinlich lauert uns Akio dort auf.«
Ihre innere Spannung wurde mit jedem Augenblick gröÃer. Sie spürte, dass etwas an ihr zog, dass er sie suchte. Da hörte sie seine Stimme und schrak zusammen.
Komm zu mir.
Die Worte hallten wie ein Flüstern durch das schattige Gehölz.
»Hast du das gehört?« Sie packte Miki beim Arm.
»Was?«
»Die Stimme. Das ist er.«
Miki spitzte die Ohren. »Ich kann niemanden hören.«
»Lass uns gehen«, sagte Maya. Sie sah zum Himmel auf. Die Sonne hatte ihren Zenit überschritten und bewegte sich nach Westen. Die HauptstraÃe führte durch einen der fruchtbarsten Landstriche der Drei Länder nach Norden und folgte dem Verlauf des Flusses bis nach Tsuwano. Auf jeder Seite des Tales lagen Reisfelder,da und dort standen Bauernhäuser und Hütten. Bis zur Brücke in Kibi verlief die StraÃe am Westufer des Flusses. AuÃerdem gab es eine neue Brücke, kurz vor dem Zusammenfluss mit dem Yamagata. Der Fluss überflutete regelmäÃig die Küstenebene, doch eine Tagesreise nördlich von Hofu wurde er flacher und sein Wasser schäumte in Stromschnellen über ein felsiges Bett.
Beide Mädchen waren oft auf dieser StraÃe unterwegs gewesen. Miki erst kürzlich, vor einigen Tagen, Maya im letzten Herbst mit Taku und Sada.
»Ich würde gern wissen, wo die Stuten sind«, sagte sie zu Miki, als sie den Schutz der Bäume verlieÃen und in die Nachmittagshitze traten. »Ich habe sie nämlich verloren.«
»Welche Stuten?«
»Die Shigeko uns in Maruyama überlassen hat.«
Als sie mit dem Aufstieg in die Bambuswälder begannen, erzählte Maya ihrer Schwester kurz von dem Angriff und dem Tod von Taku und Sada. Zum Schluss weinte Miki leise in sich hinein, aber Mayas Augen waren trocken.
»Ich habe von dir geträumt«, sagte Miki, die sich mit einer Hand die Augen wischte. »Ich habe geträumt, du wärst die Katze und ich ihr Schatten. Ich wusste, dass gerade etwas Schreckliches mit dir passierte.«
Sie schwieg eine Weile und sagte dann: »Hat Akio dir wehgetan?«
»Er hätte mich fast erwürgt, um mich zum Verstummen zu bringen, und dann hat er mich ein paarmal geschlagen, mehr nicht.«
»Und Hisao?«
Maya beschleunigte zwischen den silbergrünen Stämmen ihre Schritte, bis sie fast lief. Vor ihnen glitt eine Viper über den Pfad und verschwand im dichten Unterholz. Irgendwo links von ihnen sang ein kleiner Vogel. Das unablässige Schrillen der Zikaden schien noch lauter zu werden.
Auch Miki lief. Sie glitten zwischen den Bambusstämmen hindurch, trittfest wie Rehe, aber noch leiser.
»Hisao ist ein Herr der Geister«, sagte Maya, als der Hang steiler wurde und sie das Tempo drosseln mussten.
»Ein Herr der Geister vom Stamm?«
»Ja. Er könnte furchtbar mächtig sein, aber er weià nicht, wie er mit seiner Fähigkeit umgehen soll. Man hat ihm nicht viel beigebracht, auÃer grausam zu sein. Und er versteht sich auf den Bau von Feuerwaffen. Ich nehme an, das hat ihm
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