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Der Clan der Otori – Der Ruf des Reihers

Titel: Der Clan der Otori – Der Ruf des Reihers Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lian Hearn
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Vögel stimmten die letzten Lieder der Dämmerung an. Maya, die auf dem schmalen Pfad voranging, blieb plötzlich stehen.
    Â»Rauch«, flüsterte Miki.
    Maya nickte und sie gingen vorsichtiger weiter. Der Geruch wurde stärker, und dann mischte sich der quälend verlockende Duft gebratenen Fleisches mit hinein. Fasan oder Hase, wie Maya dachte, denn sie hatte beides in den Bergen um Kagemura gegessen. Ihr lief das Wasser im Mund zusammen. Durch die Bäume konnten sie eine kleine Hütte erkennen. Davor brannte das Feuer, an dem eine schmale Gestalt kniete und sich um das Fleisch kümmerte.
    Umriss und Bewegungen verrieten Maya, dass es sich um eine Frau handelte, und irgendetwas kam ihr sehr vertraut vor.
    Â»Sieht aus wie Shizuka«, hauchte Miki ihr ins Ohr.
    Maya ergriff ihre Schwester beim Arm, als diese losrennen wollte. »Das ist doch unmöglich. Wie kann sie hier sein? Ich schaue mal nach.«
    Sie machte sich unsichtbar und glitt durch den Wald bis zur Rückseite der Hütte. Der Duft nach Essen war so stark, dass Maya befürchtete, die Konzentration zu verlieren. Sie tastete nach ihrem Messer. Offenbar war die Frau allein. Sie trug eine Kapuze, die sie mit einer Hand von ihrem Gesicht fortzog. Mit der anderen Hand wendete sie das Fleisch auf dem provisorischen Rost.
    Eine leichte Brise wehte über die Lichtung und wirbelte braune und grüne Federn auf. Ohne sich umzuwenden, sagte die Frau: »Lass das Messer stecken. Ich gebe dir und deiner Schwester zu essen.«
    Die Frau klang ein wenig wie Shizuka, zugleich aber ganz anders. Maya dachte: Wenn sie mich sehen kann, muss sie zum Stamm gehören .
    Â»Bist du eine Muto?«, fragte sie, entspannte sich und wurde wieder sichtbar.
    Â»Ja, ich bin eine Muto«, antwortete die Frau. »Du kannst mich Yusetsu nennen.«
    Dieser Name war Maya fremd. Er hatte einen kalten und geheimnisvollen Klang und erinnerte an die letzten Reste des Schnees, die im Frühling auf der Nordseite der Berge lagen.
    Â»Was tust du hier? Hat mein Vater dich geschickt?«
    Â»Dein Vater? Takeo.« Sie sprach den Namen mit tiefem, sehnsuchtsvollem Bedauern aus, sowohl bitter als auch süß, und Maya lief ein Schauder über den Rücken. Die Frau sah sie an, doch die Kapuze verhüllte ihr Gesicht, und selbst im Schein des Feuers konnte Maya ihre Züge nicht erkennen.
    Â»Das Fleisch ist fast fertig«, sagte Yusetsu. »Ruf deine Schwester. Und wascht euch.«
    Auf der Schwelle der Hütte stand ein Krug mit Wasser, mit dem die Mädchen einander abwechselnd Hände und Füße übergossen. Yusetsu tat den gebratenen Fasan auf ein mit Blättern bedecktes Rindenstück, legte es auf die Schwelle, kniete sich daneben und schnitt das Fleisch mit einem kleinen Messer in Häppchen. Die Mädchen aßen schweigend. Sie schlangen das Fleisch hinunter wie Tiere und es verbrannte ihnen Lippen und Zunge. Yusetsu aß nichts, sondern sah ihnen bei jedem Bissen zu und musterte ihre Gesichter und Hände.
    Nachdem sie den letzten Knochen abgelutscht hatten, goss sie Wasser auf ein Tuch und wischte die Hände der Mädchen ab. Dann hielt sie die Hände hoch und zog mit den Fingern die Kikutalinie nach.
    Schließlich zeigte sie den Zwillingen die Stelle, an der sie sich erleichtern konnten, und gab ihnen Moos, mit dem sie sich abwischen konnten. Sie verhielt sich so aufmerksam und sachlich, als wäre sie ihre Mutter. Später entzündete sie eine Lampe mit einem brennenden Zweig, den sie aus dem erlöschenden Feuer gezogen hatte, und alle legten sich auf den Boden der Hütte. Yusetsu starrte die Mädchen weiter mit hungrigem Blick an.
    Â»Ihr seid also Takeos Töchter«, sagte sie leise. »Ihr seht ihm ähnlich. Ihr hättet meine Töchter sein sollen.«
    Und beide Mädchen, satt und warm, hatten das Gefühl, als hätte die Frau Recht, obwohl sie immer noch nicht wussten, wer sie war.
    Die Frau löschte die Lampe und breitete ihren Mantel über die beiden. »Schlaft«, sagte sie. »Während ich bei euch bin, kann euch niemand etwas tun.«
    Sie schliefen traumlos und erwachten bei Tagesanbruch. Der Regen prasselte auf ihre Gesichter, der Boden unter ihnen war feucht. Hütte, Wasserkrug und Frau waren spurlos verschwunden. Nur die im Schlamm liegenden Federn und die Reste des Feuers zeugten davon, dass Yusetsu da gewesen war.
    Â»Das war eine Geisterfrau«, sagte

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