Der Clan der Otori – Der Ruf des Reihers
Miki.
»Mmh«, brummte Maya zustimmend.
»War es Hisaos Mutter? Yuki?«
»Wer sollte es sonst gewesen sein?« Maya setzte sich in Bewegung. Auf dem Weg nach Norden verlor keines der Mädchen ein weiteres Wort über die Frau, aber sie schmeckten den Fasan noch auf der Zunge und im Hals.
»Da ist eine Art Pfad«, sagte Miki, als sie ihre Schwester einholte. »Wie gestern.«
Ein Trampelpfad, der an einen Wildwechsel erinnerte, führte durch das Unterholz. Die Mädchen folgten ihm den ganzen Tag, rasteten während der Mittagshitze zwischen dichten Haselnusssträuchern und wanderten weiter, bis im Osten die schlanke Sichel des neuen Mondes aufging.
Dann roch es plötzlich wieder nach Rauch, nach bratendem Fleisch, dessen Duft das Wasser im Mund zusammenlaufen lieÃ, und da war auch wieder die Frau am Feuer, das Gesicht unter der Kapuze des Mantels verborgen. Hinter ihr standen die Hütte und der Krug mit Wasser.
»Wir sind zu Hause«, begrüÃte Maya sie vertraut.
»Willkommen zu Hause«, erwiderte die Frau. »Wascht euch die Hände. Das Essen ist fertig.«
»Ist das ein Geisteressen?«, fragte Miki, als die Frau das Fleisch brachte â diesmal Hase â und es für sie klein schnitt.
Yusetsu lachte. »Essen ist immer Geisteressen. Jede Art von Nahrung ist schon tot und schenkt euch ihren Geist, damit ihr leben könnt.
Nur keine Angst«, fügte sie hinzu, als Miki zögerte. Maya stopfte sich schon das Fleisch in den Mund. »Ich bin hier, um euch zu helfen.«
»Und was verlangst du im Gegenzug von uns?«, fragte Miki, die immer noch nichts aÃ.
»Ich vergelte euch einen Gefallen. Ich stehe in eurer Schuld. Denn du hast das Band durchschnitten, das mich an mein Kind gefesselt hat.«
»Das habe ich getan?«
»Du hast die Katze befreit und damit auch mich.«
»Wenn du frei bist, solltest du weiterziehen«, sagte Miki mit einer ruhigen, strengen Stimme, die Maya noch nie bei ihr gehört hatte. »Deine Zeit auf dieser Welt ist abgelaufen. Du musst loslassen und deinen Geist die Reise zur nächsten Wiedergeburt antreten lassen.«
»Du bist weise«, erwiderte Yuki. »So weise und mächtig, wie du als erwachsene Frau nicht mehr sein wirst. In ein oder zwei Monaten werdet ihr beiden zum ersten Mal bluten. Wenn man eine Frau ist, wird man schwach; wenn man sich verliebt, wird man zerstört;wenn man ein Kind hat, bedeutet das, dass einem ein Messer an der Kehle sitzt. Liegt niemals bei einem Mann. Wenn ihr nicht damit anfangt, werdet ihr es auch nie vermissen. Ich habe den Liebesakt geliebt. Als ich mir euren Vater als Liebhaber nahm, hatte ich das Gefühl, im Himmel zu schweben. Ich gab mich ihm mit Haut und Haar hin. Ich habe mich Tag und Nacht nach ihm gesehnt. Und ich habe getan, was man mir befohlen hatte. Ihr seid Kinder des Stammes. Ihr wisst bestimmt, was Gehorsam ist.«
Die Mädchen nickten, sprachen aber kein Wort.
»Ich habe dem Kikutameister gehorcht und auch Akio, denn ich wusste, dass ich ihn eines Tages heiraten sollte. Aber ich glaubte, ich würde Takeo heiraten und seine Kinder bekommen. Hinsichtlich der Stammesfähigkeiten waren wir ein perfektes Paar, und ich ging davon aus, dass er sich in mich verliebt hatte. Er schien so besessen von mir zu sein wie ich von ihm. Dann fand ich heraus, dass er Shirakawa Kaede liebte, eine dumme Leidenschaft, die ihn veranlasste, dem Stamm den Rücken zu kehren, und die mein Todesurteil bedeutete.«
Yuki verstummte. Auch die Mädchen schwiegen. Diese Version der Geschichte ihrer Eltern, erzählt von einer Frau, die wegen ihrer Liebe zu ihrem Vater so viel erlitten hatte, hatten sie noch nie gehört. SchlieÃlich sagte Maya: »Hisao verschlieÃt die Ohren vor dir.«
Miki beugte sich vor, nahm ein Stück Fleisch und kaute es sorgsam, schmeckte das Fett und das Blut.
»Er will nicht wissen, wer er ist«, antwortete Yuki.»Er handelt wider seine Natur und daher hat er schreckliche Schmerzen.«
»Er kann nicht erlöst werden«, sagte Maya, in der erneut die Wut erwachte. »Er ist durch und durch böse geworden.«
Die Nacht war angebrochen. Der Mond war hinter den Bergen verschwunden. Das Feuer knackte leise.
»Ihr seid seine Schwestern«, sagte Yuki. »Eine von euch wird zur Katze, die er liebt. Die andere besitzt eine spirituelle Kraft, die seiner Macht widersteht. Wenn er sich
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