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Der Clan der Otori – Der Ruf des Reihers

Titel: Der Clan der Otori – Der Ruf des Reihers Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lian Hearn
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Sommersonnenwende. Die Sonne stand noch hoch im Westen und ihr Licht verwandelte das Meer in Messing. Die Zwillinge hockten im Bambuswald am Rand der bestellten Felder. Der Reis leuchtete in sattem Grün und hatte einen leichten goldenen Schimmer. Die Gemüsefelder waren eine Üppigkeit aus Blättern, Bohnen, Möhren und Zwiebeln.
    Â»Heute Abend brauchen wir Yuki nicht«, sagte Miki. »Wir können zu Hause schlafen.«
    Dieser Gedanke betrübte Maya. Sie würde Yuki vermissen, und plötzlich verspürte sie den seltsamen Wunsch, ihr überallhin zu folgen.
    Die Flut lief ab und legte den Schlamm an den Ufern der Zwillingsflüsse frei. Maya konnte die Bogen der Steinbrücke und den Schrein des Flussgottes sehen. Dort hatte sie Mori Hirokis Katze mit dem Kikutablick getötet, deren Geist ihr nun innewohnte. Sie sah die Holzpfeiler des Fischwehrs und die Boote, auf der Seite liegend wie Leichen, die darauf warteten, dass das Wasser sie wieder zum Leben erweckte. Dahinter lagen die Bäume und Gärten des alten Hauses ihrer Familie. Weiter westlich, über den niedrigen, mit Ziegeln oder Biberschwanzschindeln gedeckten Häusern der Stadt, erhob sich ihr anderes Zuhause, das Schloss. Die goldenen Delfine auf dem höchsten Dach glitzerten in der Sonne, die Mauern waren leuchtend weiß und die Banner der Otori flatterten im leichten, vom Meer kommenden Wind. Das Wasser der Bucht war von einem tiefen Indigoblau und nur hier und da von Gischt gefleckt. In den Gärten gegenüber vom Schloss, rings um den Vulkankrater, leuchteten die letzten Azaleen vor dem üppigen Laub des Sommers, dessen Spitzen das Licht golden umsäumte.
    Maya kniff die Augen zusammen und schaute in die Sonne. Sie konnte den Reiher der Otori auf den Bannern erkennen, doch daneben wehten andere mit der schwarzen Bärentatze auf rotem Hintergrund: die der Arai.
    Â»Tante Hana ist da«, flüsterte sie Miki zu. »Ich will nicht, dass sie mich sieht.«
    Â»Sie ist bestimmt im Schloss«, sagte Miki, und sie lächelten einander an, weil sie beide wussten, wie wichtig sich Hana nahm und wie sehr sie den Luxus liebte. »Dann ist Mutter wohl auch dort.«
    Â»Lass uns zuerst zum Haus gehen«, schlug Maya vor. »Und Haruka und Chiyo begrüßen. Sie werden Mutter Bescheid sagen.«
    Sie merkte, dass sie nicht genau wusste, wie ihre Mutter reagieren würde. Plötzlich erinnerte sie sich an die letzte Begegnung, an Kaedes Zorn und die Ohrfeigen. Seitdem hatte sie nichts mehr von ihr gehört, weder durch Briefe noch Botschaften. Selbst die Nachricht von der Geburt des kleinen Jungen war nur durch Shigekonach Hofu gelangt. Ich hätte mit Taku und Sada getötet werden können , dachte sie. Aber Mutter ist das egal . Heftige und widersprüchliche Gefühle ergriffen von ihr Besitz: Sie hatte sich nach ihrem Zuhause gesehnt, befürchtete jetzt aber, nicht willkommen zu sein. Wenn es doch Yuki wäre , dachte sie. Ich könnte zu ihr laufen und ihr alles erzählen und sie würde mir glauben.
    Sie wurde von einer furchtbaren Trauer überkommen, weil Yuki tot war und nie die Liebe ihres Kindes kennengelernt hatte. Weil Kaede lebte …
    Â»Ich gehe«, sagte sie. »Ich werde ja sehen, wer dort ist und ob Vater schon zurückgekehrt ist.«
    Â»Er ist bestimmt nicht zurück«, sagte Miki. »Er ist weit weg in Miyako.«
    Â»Weit weg ist er sicherer als zu Hause«, erwiderte Maya. »Aber wir müssen Mutter von Onkel Zenko erzählen – dass er Taku töten ließ und eine Armee aufstellt.«
    Â»Wie kann er das wagen, wenn Hana und seine Söhne in Hagi sind?«
    Â»Hana plant vermutlich, sie wieder mitzunehmen. Deshalb ist sie gekommen. Warte hier. Ich bin so rasch wie möglich zurück.«
    Maya trug noch Jungenkleider und glaubte nicht, dass irgendjemand Notiz von ihr nähme. Viele Jungen in ihrem Alter spielten am Ufer und überquerten den Fluss auf dem Fischwehr. Sie rannte wie so oft behände hinüber. Die Oberseiten der Pfeiler waren feucht und glitschig und grüne Algen baumelten daran. Der Fluss roch vertraut nach Salz und Schlamm. Auf der anderen Seiteblieb sie vor dem Loch in der Gartenmauer stehen, durch das der Bach in den Fluss strömte. Das Bambusgitter fehlte. Sie machte sich unsichtbar und betrat den Garten.
    Im Bach fischte ein großer Graureiher. Er bemerkte ihre Bewegung, schwang den Schnabel zu ihr

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