Der Clan der Otori – Der Ruf des Reihers
sie in seiner Heimat und auch auf den Südlichen Inseln gegen die Einheimischen anwende, um zu strafen, Informationen zu bekommen und Seelen zu retten. Letzteres war ihr unverständlich, doch sie fand es interessant, dass die Seele weiblich war, und fragte sich, ob die Seelen für den männlichen Deus so etwas wie Frauen waren.
»Wenn der Priester kommt, musst du getauft werden«, sagte Don João zu ihr, und als sie begriffen hatte, was er damit meinte, erinnerte sie sich an die Worte ihrer Mutter: Geboren durch das Wasser , und sie nannte ihm ihren Taufnamen.
»Madalena!«, wiederholte er verdutzt und schlug das Zeichen des Kreuzes.
Er war brennend an den Verborgenen interessiert und wollte mehr von ihnen treffen. Dadurch wurde auch ihr Interesse wach und sie begannen, mit anderen Gläubigen am gemeinsamen Mahl der Verborgenen teilzunehmen. Don João stellte viele Fragen und Madaren übersetzte sie, und im Anschluss übersetzte sie die Antworten. Sie begegnete Menschen, die von ihrem Dorf gewusst und von dem Massaker erfahren hatten, das vor langer Zeit in Mino stattgefunden hatte. Sie hielten ihr Entkommen für ein Wunder und meinten, der Geheime Gott müsse ihr Leben für eine bestimmte Aufgabe verschont haben. Madaren kehrte begeistert zum Glauben ihrer Kindheit zurück und wartete darauf, dass ihr diese Aufgabe enthüllt wurde.
Und dann wurde ihr Tomasu geschickt und sie begriff, die Aufgabe musste irgendetwas mit ihm zu tun haben.
Die Fremden kannten weder gute Manieren noch Höflichkeit, und Don João erwartete, dass Madaren ihn überallhin begleitete, zumal er sie als Dolmetscherin brauchte. Mit der gleichen wilden Entschlossenheit, mit der sie aus Inuyama geflohen war und die Sprache der Fremden gelernt hatte, studierte sie jede ihr fremde Umgebung und kniete stets demütig ein Stückchen hinter den Fremden und deren Gesprächspartnern. Sie sprach leise und deutlich, und wenn sie die Worte nicht höflich genug fand, schmückte sie ihre Ãbersetzung aus. Sie war oft in den Häusern der Kaufleute, bemerkte die verächtlichen und misstrauischen Blicke ihrer Frauen und Töchter, und manchmal war sie auch in edleren Häusern, vor kurzem etwa in der Residenz von Lord Arai. Sie fand es erstaunlich, sich an einem Tag in einem Raum mit Lord Arai Zenko zu befinden und am nächsten Tag in einem Lokal wie dem Umedaya. Ihr Instinkt war richtig gewesen: Sie hatte die Sprache der Fremden gelernt und das hatte ihr Zugang zu deren Macht und Freiheit verschafft. Und in gewisser Weise hatte sie Macht über die Fremden, denn diese brauchten sie und begannen, sich auf sie zu verlassen.
Dr. Ishida war sie des Ãfteren begegnet und hatte bei langen Diskussionen die Dolmetscherin gespielt. Manchmal brachte Ishida Texte mit, die er vorlas, damit Madaren, die weder lesen noch schreiben konnte, übersetzte. Auch Don João las ihr aus dem heiligen Buch vor und sieerkannte Versbruchstücke der Gebete und Segenssprüche ihrer Kindheit wieder.
An jenem Abend hatte Don João Ishida erblickt und ihn in der Hoffnung begrüÃt, sich mit ihm unterhalten zu können, doch Ishida hatte sich damit entschuldigt, zu einem Patienten zu müssen. Madaren hatte vermutet, dass er seinen Begleiter gemeint hatte. Sie hatte den Mann gemustert und die verkrüppelte Hand und die Falten zwischen den Augen bemerkt. Sie hatte es nicht sofort begriffen, doch ihr Herz hatte einen Schlag ausgesetzt und danach weitergepocht, als hätte ihre Haut die seine erkannt und sofort gewusst, dass sie dieselbe Mutter hatten.
Sie hatte kaum Schlaf gefunden und der Körper des Fremden neben ihr war ihr unerträglich heià vorgekommen, und noch vor Tagesanbruch hatte sie sich davongeschlichen, um unter den Weidenbäumen am Fluss spazieren zu gehen. Der Mond hatte seinen Lauf am Himmel beendet und stand groà und wässrig im Westen. Es herrschte Ebbe und Krabben, deren Schatten wie Klauen wirkten, huschten über die Wattbänke. Madaren wollte Don João nicht sagen, wohin sie ging. Sie wollte nicht in seiner Sprache denken oder sich Sorgen um ihn machen müssen. Durch die dunklen StraÃen ging sie zu dem Haus, in dem sie gearbeitet hatte, weckte dort die Magd, wusch sich und zog sich an. Dann setzte sie sich, um in aller Ruhe Tee zu trinken, bis es richtig hell war.
Auf dem Weg nach Daifukuji kamen ihr plötzlich Zweifel: Es war nicht Tomasu gewesen, sie hatte
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