Der Clan der Otori – Der Ruf des Reihers
sich geirrt, alles nur geträumt. Er würde nicht kommen, denner schien es im Leben zu etwas gebracht zu haben, war jetzt ein Kaufmann â allerdings kein besonders erfolgreicher, seiner Kleidung nach zu urteilen â, der bestimmt nichts mit ihr zu tun haben wollte. Er war ihr nicht zu Hilfe gekommen â er war die ganze Zeit am Leben gewesen und hatte nicht nach ihr gesucht. Sie ging langsam und bemerkte nicht die Betriebsamkeit auf dem Fluss, als die Flut wieder auflief und die trockengefallenen Boote zum Leben erweckte.
Daifukuji lag direkt am Meer. Seine roten Tore konnte man schon aus der Ferne erkennen, sie hieÃen Seeleute und Händler zu Hause willkommen und erinnerten sie daran, Ebisu, dem Meeresgott, für die sichere Reise zu danken. Madaren betrachtete die Schnitzereien und Statuen voller Missfallen, denn wie Don João glaubte sie inzwischen, all dies sei dem Geheimen Gott verhasst und käme einer Anbetung des Teufels gleich. Sie fragte sich, warum ihr Bruder einen solchen Treffpunkt ausgesucht hatte, befürchtete, dass er nicht mehr gläubig war, lieà eine Hand unter ihr Gewand gleiten und berührte das Kreuz, das Don João ihr geschenkt hatte. Dann wurde ihr klar, dass genau dies ihre Aufgabe war â sie musste Tomasus Seele retten.
Sie blieb gleich hinter dem Tor stehen und wartete auf ihn, einerseits irritiert von den Gesängen und Glocken, die im Tempel ertönten, andererseits â und sich selbst zum Trotz â bezaubert und eingelullt von der Schönheit des Gartens. Die Teiche waren von Iris gesäumt, und die ersten Azaleen des Sommers trieben üppige zinnoberrote Blüten. In der Sonne wurde es baldzu heià und Madaren suchte Schatten im Garten. Sie ging zur Rückseite des Haupttempels. Rechts von ihr standen mehrere uralte Zedern, jede mit glänzenden Strohbändern umwunden, und gleich dahinter lag ein von weiÃen Mauern umschlossener Garten mit wesentlich kleineren Bäumen, vermutlich Kirschen, wie Madaren dachte, obwohl die Blüten längst abgefallen und grünem Laub gewichen waren. Vor der Mauer standen ein paar Männer, hauptsächlich Mönche mit rasiertem Kopf und Gewändern in gedämpften Farben. Sie schauten nach oben. Madaren folgte ihren Blicken und sah, was sie bestaunten: noch eine seltsame Schnitzerei, wie sie zuerst dachte, das Bildnis einer Avatara oder eines Dämons â aber dann blinzelte das Wesen mit langen Wimpern, wedelte mit den gescheckten Ohren und lieà seine dunkelgraue Zunge über die weiche Stupsnase gleiten. Es drehte den gehörnten Kopf und blickte gütig auf seine Bewunderer hinab. Es war ein lebendiges Geschöpf â aber welches Geschöpf hatte einen so langen Hals, dass es über eine Mauer schauen konnte, die höher war als der gröÃte Mann?
Es war das Kirin.
Als Madaren das auÃergewöhnliche Tier betrachtete, kam ihr in ihrer Verwirrtheit alles vor wie ein Traum. Am Haupttor des Tempels herrschte plötzlich Geschäftigkeit und sie hörte, wie ein Mann aufgeregt rief: »Lord Otori ist da!« Ihr Traum traf sie mit voller Wucht, als sie auf die Knie fiel und den Herrscher der Drei Länder, umringt von einem Gefolge von Kriegern, in den Garten kommen sah. Er trug feierliche Sommergewänder in Cremefarbe und Gold und hatte einen kleinen schwarzen Hut auf dem Kopf, und als sie die verkrüppelte Hand im Seidenhandschuh erblickte und das Gesicht erkannte, begriff sie, dass es Tomasu war, ihr Bruder.
KAPITEL 9
Takeo bemerkte seine Schwester, die demütig im Schatten am Rand des Gartens kniete, doch er schenkte ihr keine weitere Beachtung. Wenn sie bliebe, würde er unter vier Augen mit ihr sprechen. Wenn sie ginge und aus seinem Leben verschwände, würde er nicht nach ihr suchen, egal, wie sehr er dies bedauerte oder wie traurig ihn dies stimmte. Vermutlich wäre es besser und einfacher, wenn sie verschwände. Das könnte er problemlos arrangieren. Er dachte kurz darüber nach, verwarf den Gedanken aber. Er würde gerecht mit ihr verfahren, genau wie mit Zenko und Kono â durch Verhandlungen und gemäà dem Gesetz, das er selbst aufgestellt hatte. Â
Wie zur Bestätigung, dass der Himmel ihm zustimmte, tat sich das Tor zum ummauerten Garten auf und das Kirin erschien. Ishida führte es an einer roten Samtkordel, die an einem perlengeschmückten Halsband befestigt war. Ishida
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