Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Der Clan der Otori – Der Ruf des Reihers

Titel: Der Clan der Otori – Der Ruf des Reihers Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lian Hearn
Vom Netzwerk:
reichte dem Kirin kaum bis zum Widerrist, doch es folgte ihm vertrauensvoll und mit viel Würde. Sein Fell, von blassem Kastanienbraun, wurde unterbrochen von hell umrandeten Flecken, die in Form und Größe der Handfläche eines Mannes ähnelten.
    Es witterte Wasser und reckte den langen Hals zumTeich. Ishida ließ es hintraben und es spreizte die Beine, um sich zum Trinken weit genug herrabbeugen zu können.
    Die kleine Schar von Mönchen und Kriegern lachte vor Freude, denn es schien, als hätte sich das sagenhafte Tier vor Lord Otori verneigt.
    Takeo war nicht weniger erfreut. Er ging zum Kirin, das zuließ, dass er das weiche und wunderbar gemusterte Fell streichelte. Es schien keine Angst zu haben, hielt sich aber dicht an Ishida.
    Â»Ist es ein Männchen oder ein Weibchen?«, fragte Takeo.
    Â»Ein Weibchen, glaube ich«, antwortete Ishida. »Es besitzt keine männlichen Geschlechtsteile und ist sanfter und vertrauensvoller, als man es von einem Männchen dieser Größe erwarten würde. Aber es ist noch sehr jung. Vielleicht verändert es sich mit der Zeit und dann werden wir Gewissheit haben.«
    Â»Wo haben Sie es nur aufgestöbert?«
    Â»Im Süden von Tenjiku. Doch es kommt von einer noch weiter westlich gelegenen Insel. Die Seeleute erzählen von einem gewaltigen Kontinent, auf dem riesige Herden dieser Tiere grasen, gemeinsam mit Elefanten, die sowohl auf dem Land als auch in den Flüssen leben, großen goldenen Löwen und rosa Vögeln. Die Männer dort sind doppelt so groß wie wir, haben eine Haut wie schwarzer Lack und können mit bloßen Händen Eisen biegen.«
    Â»Aber wie haben Sie es erwerben können? Ein solches Tier ist doch sicher unbezahlbar.«
    Â»Es wurde mir als Bezahlung angeboten«, antwortete Ishida. »Ich konnte dem dortigen Prinzen einen kleinen Dienst erweisen. Ich dachte sofort, dieses Tier würde Lady Shigeko sehr gefallen. Daher habe ich es angenommen und dafür gesorgt, dass es uns nach Hause begleitet.«
    Takeo lächelte bei dem Gedanken an seine Tochter, die sich so gut auf Pferde verstand und alle Tiere liebte.
    Â»Es war doch sicher schwierig, es am Leben zu erhalten. Was frisst es?«
    Â»Zum Glück war die Heimreise ruhig und das Kirin ist friedfertig und leicht zufrieden zu stellen. Eigentlich frisst es die Blätter der Bäume seiner Heimat, nimmt aber auch mit Gras oder Heu und anderem schmackhaften Grünzeug vorlieb.«
    Â»Könnte es bis nach Hagi laufen?«
    Â»Vielleicht sollten wir es besser auf dem Seeweg dorthin bringen. Es kann viele Meilen laufen, ohne zu ermüden, aber ich glaube nicht, dass es ein Gebirge überqueren kann.«
    Nachdem sie das Kirin ausreichend bestaunt hatten, führte Ishida das Tier zurück in den ummauerten Garten und ging im Anschluss mit Takeo zum Tempel, wo man eine kurze Zeremonie abhielt und für die Gesundheit Lord Otoris und des Kirin betete. Takeo entzündete Weihrauch und Kerzen und kniete vor der Statue des Gottes nieder. Er führte die von ihm verlangten religiösen Riten ehrerbietig und achtungsvoll aus. In den Drei Ländern waren alle Sekten und Glaubensrichtungen erlaubt, vorausgesetzt, sie stellten keine Bedrohung für diesoziale Ordnung dar. Obgleich Takeo an keinen Gott glaubte, erkannte er das Bedürfnis der Menschen nach einer spirituellen Daseinsgrundlage, ja er teilte es sogar.
    Nach den Zeremonien, bei denen man dem Erleuchteten, dem großen Weisen und Ebisu dankte und ihnen Ehre erwies, wurden Tee und Süßigkeiten aus Bohnenpaste gereicht, und Takeo, Ishida und der Abt des Tempels unterhielten sich gegenseitig mit Geschichten und dachten sich Gedichte mit vielen Anspielungen auf das Kirin aus.
    Kurz vor Mittag stand Takeo auf, sagte, er wolle eine Weile allein im Garten sitzen, und ging zur kleineren, hinter dem Haupttempel gelegenen Halle. Die Frau kniete noch immer geduldig am selben Fleck. Als er an ihr vorbeiging, winkte er unmerklich, damit sie ihm folgte.
    Das Gebäude zeigte nach Osten. Seine Südseite lag in der hellen Sonne, doch auf der Veranda, im tiefen Schatten des geschwungenen Daches, war die Luft noch kühl. Zwei junge Mönche putzten gerade die Statuen und fegten den Boden. Sie zogen sich wortlos zurück. Takeo setzte sich an den Rand der Veranda. Das Holz war zu einem Silbergrau verwittert und noch warm von der Sonne. Er hörte Madarens zögernden Schritt

Weitere Kostenlose Bücher