Der Clan der Otori – Der Ruf des Reihers
auf dem Kies des Weges, hörte ihre raschen, flachen Atemzüge. Im Garten zwitscherten die Spatzen und in den Zedern gurrten Tauben. Madaren fiel auf die Knie und verbarg ihr Gesicht.
»Du brauchst keine Angst zu haben«, sagte Takeo.
»Ich habe keine Angst«, erwiderte sie nach einerWeile. »Ich ⦠verstehe nur nicht. Vielleicht habe ich einen dummen Fehler begangen. Aber Lord Otori spricht unter vier Augen mit mir, und das wäre nie passiert, wenn das, was ich denke, falsch wäre.«
»Wir haben einander gestern Abend erkannt«, sagte Takeo. »Ich bin tatsächlich dein Bruder. Aber es ist Jahre her, dass mich jemand Tomasu genannt hat.«
Sie sah ihm in die Augen. Er wich ihrem Blick aus und betrachtete den tiefen Schatten des Haines und die ferne Gartenmauer, wo der Kopf des Kirin über den Ziegeln schwankte wie ein Kinderspielzeug.
Er begriff, dass sie seine Ruhe als Gleichgültigkeit auffassen musste, und er spürte, wie Wut in ihr schwelte. Als sie wieder sprach, klang sie fast anklagend.
»Seit sechzehn Jahren höre ich Balladen und Geschichten über Sie. Sie kamen mir vor wie ein unerreichbarer und sagenumwobener Held. Wie können Sie Tomasu aus Mino sein? Was ist mit Ihnen geschehen, während man mich von Freudenhaus zu Freudenhaus verkauft hat?«
»Ich wurde damals von Lord Otori Shigeru gerettet. Er hat mich als Erben adoptiert und wollte, dass ich Shirakawa Kaede heirate, Erbin von Maruyama.«
Das war die allerknappste Version der auÃergewöhnlichen, turbulenten Reise, an deren Ende er zum mächtigsten Mann der Drei Länder geworden war.
Madaren sagte voller Bitterkeit: »Ich habe gesehen, wie Sie vor der goldenen Statue gekniet haben. Und aus den Sagen weià ich, dass Sie Leben genommen haben.«
Takeo nickte unmerklich als Zustimmung. Er fragtesich, was sie von ihm verlangte und was er für sie tun konnte. Was ihr im Leben wieder auf die Beine helfen würde, vorausgesetzt, dies wäre überhaupt möglich.
»Ich nehme an, unsere Mutter und Schwester â¦Â«, sagte er voller Schmerz.
»Beide tot. Ich weià nicht einmal, wo sie begraben sind.«
»Was du erlitten hast, tut mir leid.« Schon beim Sprechen wurde Takeo klar, dass er steif klang und die Worte unangemessen waren. Die Kluft zwischen ihm und seiner Schwester war zu groÃ. Sie konnte nicht überbrückt werden. Hätten sie noch den gleichen Glauben gehabt, dann hätten sie gemeinsam beten können, doch inzwischen stellte der Glaube ihrer Kindheit, der sie einst verbunden hatte, eine unüberwindbare Hürde dar. Dieses Wissen erfüllte ihn mit Sorge und Mitleid.
»Wenn du irgendetwas brauchst, kannst du dich an die Stadtverwaltung wenden«, sagte er. »Ich werde dafür sorgen, dass man sich um dich kümmert. Aber ich kann die Tatsache unserer Verwandschaft nicht öffentlich machen, und ich muss dich bitten, es für dich zu behalten.«
Er merkte, dass er sie verletzt hatte, und spürte wieder den Stich des Mitleids. Trotzdem wusste er, er konnte ihr in seinem Leben keinen gröÃeren Platz einräumen, als den, unter seinem Schutz zu stehen.
»Tomasu«, sagte sie. »Du bist mein groÃer Bruder. Wir sind einander verpflichtet. AuÃer dir habe ich keine Familie mehr. Ich bin die Tante deiner Kinder. Und auÃerdem habe ich dir gegenüber eine spirituelle Verantwortung. Mir liegt an deinem Seelenheil. Ich werde nicht mitansehen, wie du zur Hölle fährst!«
Er stand auf und ging davon. »Es gibt keine Hölle«, erwiderte er über die Schulter. »AuÃer jener, die sich die Menschen auf Erden selbst bereiten. Versuch nicht wieder, dich mir zu nähern.«
KAPITEL 10
»Und die Jünger des Erleuchteten sahen, dass die Tiger und ihre Jungen verhungerten«, sagte Shigeko mit ihrer ehrfurchtsvollsten Stimme, »und ungeachtet ihres eigenen Lebens sprangen sie von der Klippe und stürzten unten auf den Felsen zu Tode. Danach konnten sie von den Tigern gefressen werden.«
Es war ein warmer Nachmittag im Frühsommer und man hatte die Mädchen angewiesen, bis zum Nachlassen der Hitze im Haus zu lernen. Eine Weile hatten sie fleiÃig Schreiben geübt und Shigeko führte ihre elegante, flieÃende Handschrift vor, doch das stete Schrillen der Zikaden und die schimmernde Luft hatten sie müde gemacht. Sie waren früh am Morgen drauÃen gewesen, vor
Weitere Kostenlose Bücher