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Der Clan der Otori – Der Ruf des Reihers

Titel: Der Clan der Otori – Der Ruf des Reihers Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lian Hearn
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zog, zupfte Maya am Ärmel und sagte: »Wir haben bloß gespielt.«
    Â»Für solche Spiele seid ihr zu alt«, sagte er und verbarg seine Besorgnis. »So begrüßt man seinen Vater nicht. Eigentlich hatte ich zwei junge Frauen erwartet.«
    Wie immer waren sie angesichts seines Missfallens völlig niedergeschlagen.
    Â»Es tut uns leid«, sagte Miki.
    Â»Vergib uns, Vater«, bat Maya ohne die Spur eines Tigers in ihrer Stimme.
    Â»Es war auch meine Schuld«, fügte Sunaomi hinzu. »Ich hätte es besser wissen müssen. Schließlich sind sie nur Mädchen.«
    Â»Offenbar muss ich einmal ein ernstes Wort mit euch reden. Wo ist eure Mutter?«
    Â»Sie wartet auf dich, Vater. Sie hat gesagt, dass wir vielleicht mit euch essen dürfen«, flüsterte Miki kleinlaut.
    Â»Na schön, ich denke, wir alle sollten Sunaomi in unserer Familie willkommen heißen. Ihr dürft mit uns essen. Aber spielt nicht mehr Tiger!«
    Â»Die Leute sollen sich doch selbst den Tigern zum Fraß vorwerfen«, sagte Maya, als sie neben ihm hergingen. »Shigeko hat uns die Geschichte erzählt.« Sie konnte der Versuchung nicht widerstehen, Sunaomi zuzuflüstern: »Und kleine Jungs fressen die Tiger am liebsten.«
    Sunaomi beherzigte die Rüge seines Onkels und schwieg.
    Eigentlich hatte Takeo vorgehabt, noch am selben Abend mit den Zwillingen zu reden, aber nach dem Essen tat ihm vor Müdigkeit alles weh und er wollte nur noch mit Kaede allein sein. Beim Essen benahmen sich die Mädchen anständig, waren nett zu ihrem jungen Cousin und von tadelloser Höflichkeit gegenüber ihren Eltern und ihrer großen Schwester. Takeo stellte fest, dass sie alle seine Gaben der Anpassung besaßen, und fragte sich, ob dies ausreichte, um eine normale Ehe zu führen – selbst mit Sunaomi, nur als Beispiel. Oder bräuchten sie gar nicht zu heiraten, sondern konnten ihre Fähigkeiten im Rahmen des Stammes einsetzen und vielleicht irgendwann Shizuka nachfolgen …? Shizuka hatte so viel Freiheit für eigene Entscheidungen gehabtwie keine andere Frau, die er kannte – und ihre Taten hatten den Lauf der Geschichte in den Drei Ländern verändert. Außerdem hatte sie nach Belieben Männer gehabt und Söhne – und nun, als Oberhaupt des Stammes, verfügte sie über größere Macht als jede andere Frau, von Kaede einmal abgesehen.
    Im schwachen Schein der Lampen betrachtete er Kaede. Der vertraute Schwung ihres Wangenknochens und die Silhouette ihres Kopfes waren gerade noch erkennbar. Sie hatte sich in ihr Schlafgewand gehüllt und saß im Schneidersitz auf der Matratze, vor deren seidener Bettdecke sich ihre schlanken Glieder blassweiß abzeichneten. Er hatte den Kopf in ihren Schoß gelegt, spürte die Hitze ihres Körpers und erinnerte sich daran, wie er als Kind mit dem gleichen Gefühl von Hingabe und Vertrauen im Schoß seiner Mutter gelegen hatte. Kaede streichelte sanft sein Haar, rieb seinen Nacken und löste die letzten Verspannungen.
    Sobald sie allein gewesen waren, waren sie übereinander hergefallen, fast wortlos und voller Verlangen nach jener Nähe und Selbstvergessenheit, die sich stets einstellten, wenn sie einander liebten, beides immer so vertraut und zugleich so neu und fremdartig. Sie teilten ihre Trauer über Kenjis Tod, sprachen aber nicht davon und redeten auch nicht über Kaedes Gefühl, von den Geheimnissen des Stammes ausgeschlossen zu sein, oder über ihre Sorgen um ihre Töchter. Doch all dies verstärkte die stumme Intensität ihrer Leidenschaft, und nach dem Abflauen dieser Leidenschaft trat wie immerwie durch ein Wunder eine Art Heilung ein: Ihre Kühle war verflogen, seine Trauer schien erträglicher. Sie sprachen ohne Einschränkungen über alles.
    Es gab viel zu bereden, und als Erstes erzählte Takeo von seinem Verdacht gegen Zenko und seinem Grund dafür, die beiden Jungen in ihren Haushalt aufzunehmen.
    Â»Willst du sie etwa offiziell adoptieren?«, rief Kaede aus.
    Â»Wie wäre es für dich, wenn wir das täten?«
    Â»Sunaomi ist für mich schon wie ein eigenes Kind – aber Shigeko soll deine Nachfolgerin sein, oder?«
    Â»Es gibt viele Möglichkeiten – sogar eine Heirat wäre denkbar, wenn er alt genug ist. Ich will nichts übereilen. Je länger wir eine Entscheidung aufschieben können, desto

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