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Der Clan der Otori – Der Ruf des Reihers

Titel: Der Clan der Otori – Der Ruf des Reihers Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lian Hearn
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Hilfe. »Weißt du was? Wenn du in Kumamoto leben würdest, wärst du längst tot. Denn dort bringen wir Zwillinge um!«
    Â»Ich glaube dir kein Wort«, erwiderte Maya. »Jeder weiß, dass die Arai Verräter und Feiglinge sind.«
    Sunaomi reckte sich stolz. »Wenn du ein Junge wärst, würde ich dich töten. Aber da du nur ein Mädchen bist, werde ich zu diesem Haus gehen und mitbringen, was immer du willst.«
    Bei Sonnenuntergang war es windstill, der Himmel war klar, die Luft blau und leuchtend. Doch als der Mond aufging, eine Nacht nach Vollmond, brachte er aus dem Osten eine dunkle Wolkenwand mit, die sich am Himmel ausbreitete und die Sterne und schließlich auch den Mond verschluckte. Meer und Land wurden eins. Auf dem Strand glühten noch die letzten Feuer. Ein anderes Licht gab es nicht.
    Sunaomi war der älteste Sohn einer Kriegerfamilie. Seit frühester Kindheit hatte man ihn in Selbstdisziplin und der Überwindung seiner Angst unterwiesen. Obwohl er erst acht Jahre alt war, fiel es ihm nicht schwer, bis Mitternacht wach zu bleiben. Trotz seiner vollmundigen Ankündigung hatte er gewisse Bedenken – die allerdings eher dem Ungehorsam gegenüber seinem Onkel als möglichen Verletzungen oder irgendwelchen Geistern galten. Die Gefolgsleute aus Hofu, die ihn begleitet hatten, hielten sich auf Befehl Lord Otoris in einem der Clanhäuser in der Stadt auf. Die Wachtpostenim Schloss waren hauptsächlich bei den Toren und auf den vorderen Mauern postiert. In regelmäßigen Abständen liefen Wachtposten Patrouille in den Gärten. Sunaomi hörte, wie sie an der offenen Tür des Zimmers vorbeigingen, in dem er und Chikara zusammen mit den beiden Dienerinnen schliefen, die sich um sie kümmerten. Beide Mädchen schliefen tief und fest, eines von ihnen schnarchte leise. Sunaomi stand rasch auf und überlegte sich die Ausrede, austreten zu müssen, falls sie erwachten, aber sie rührten sich nicht.
    Draußen war alles still. Schloss und Stadt schliefen. Unten vor der Mauer murmelte sanft das Meer. Sunaomi, der kaum etwas erkennen konnte, holte tief Luft und begann, sich die lange Mauerrampe hinabzutasten, die aus großen, dicht gefügten Steinquadern bestand, deren Ritzen gerade so breit waren, dass man sich mit den Fingern darin festkrallen konnte. Die Mauer fiel schräg zum Wasser ab. Mehrmals glaubte Sunaomi, er säße fest und käme weder hinauf noch hinunter. Er dachte an aus dem Meer auftauchende Monster, riesige Fische oder gewaltige Kraken, die ihn in die Finsternis reißen konnten. Nun stöhnte das Meer lauter. Er konnte hören, wie das Wasser um die Felsen schäumte.
    Als seine Strohsandalen den Fels berührten, rutschte er aus und wäre um ein Haar ins Wasser gefallen. Er suchte nach einem Halt und spürte, wie ihm die scharfen Muscheln wie Messer Handflächen und Knie zerschnitten. Eine Welle umspülte ihn, und das Salzwasser brannte in den vielen kleinen Schnitten. Sunaomi biss die Zähnezusammen und bewegte sich wie eine Krabbe auf die schwelenden Feuer am Strand zu.
    Der Strand war fahlgrau. Die Wellen zischten und blitzten dabei weiß auf. Als Sunaomi endlich den weichen Sand erreichte, war das eine Erleichterung, aber dieser wich bald Büscheln harten Grases, und Sunaomi stolperte und kroch auf allen vieren in das kleine Gehölz. Rings um ihn ragten die Kiefern auf. Über ihm rief eine Eule und er erschrak und erhaschte einen Blick auf die geisterhafte Gestalt des Vogels, der mit lautlosem Flügelschlag davonsegelte.
    Er hatte sich ein gutes Stück von den glühenden Feuern entfernt und hockte sich kurz unter die Bäume. Er roch ihr Harz und den Rauch der Feuer – und noch einen schweren Duft, süß und verführerisch.
    Die wohlriechenden Büsche in Akanes Garten, gedüngt mit den Knochen und dem Blut kleiner Jungen.
    Man schickte Jungen häufig nachts auf Friedhöfe oder Hinrichtungsstätten, um ihren Mut auf die Probe zu stellen. Sunaomi hatte Maya gegenüber zwar damit geprahlt, nie einen Geist gesehen zu haben, aber das hieß nicht, dass er nicht an Geister glaubte: Frauen mit Schlangenhälsen und Zähnen, spitz wie die von Katzen, unförmige Gestalten mit nur einem Auge und ohne Gliedmaßen, kopflose Räuber, die über ihre grausame Bestrafung grollten, alle möglichen ruhelosen Toten, die sich von Menschenblut oder

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