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Der Clan der Otori – Der Ruf des Reihers

Titel: Der Clan der Otori – Der Ruf des Reihers Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lian Hearn
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sie sehr nützlich für uns, sowohl als Dolmetscherin wie auch als Lehrerin. Kannst du sie nicht dazu bringen, für uns zu spionieren?« Kaede versuchte offenbar, ihre Überraschung beiseitezuschieben und nüchtern zu denken.
    Â»Sie wird mit Sicherheit eine Informationsquelle sein, ob freiwillig oder unfreiwillig. Aber Informationen fließen in beide Richtungen. Sie könnte sich als hilfreich erweisen, wenn es darum geht, den Fremden irgendwelche Vorstellungen einzuimpfen. Daher muss ich dich bitten, sie dementsprechend zu behandeln, freundlich und mit Achtung, aber ohne ihr irgendwelche Geheimnisse zu enthüllen. Und bitte sprich mit ihr nie über mich.«
    Â»Sieht sie dir ähnlich? Ich muss sie unbedingt sehen.«
    Er schüttelte den Kopf. »Sie ähnelt ihrer Mutter.«
    Kaede sagte: »Du klingst so teilnahmslos. War es nicht großartig zu entdecken, dass sie noch lebt? Willst du sie nicht in deine Familie aufnehmen?«
    Â»Ich hatte sie für tot gehalten. Ich habe um sie getrauert wie um die anderen auch. Jetzt weiß ich nicht, wie ich mit ihr umgehen soll, zumal ich inzwischen kaum mehr etwas mit dem Jungen gemein habe, der ihr Bruderwar. Unser Unterschied in Rang und Status ist gewaltig. Außerdem ist sie leidenschaftlich gläubig, aber ich glaube an nichts mehr und werde auch nicht zur Religion meiner Kindheit zurückkehren. Ich habe den Verdacht, dass die Fremden ihre Religion verbreiten und Menschen bekehren wollen. Warum, weiß ich auch nicht. Ich darf mich von keiner der vielen Glaubensformen beeinflussen lassen, weil ich sie alle voreinander beschützen muss, damit ihre Streitereien unsere Gesellschaft nicht zerreißen.«
    Â»Niemand, der dir zuschaut, wie du in Tempel und Schrein die verlangten Zeremonien durchführst, würde dich für ungläubig halten«, sagte Kaede. »Und was ist mit dem neuen Schrein und der Statue?«
    Â»Du kennst doch meine schauspielerische Begabung«, sagte Takeo mit einem plötzlich bitteren Unterton. »Es macht mir nichts aus, um der Stabilität willen den Gläubigen zu mimen. Aber wenn du zu den Verborgenen gehörst, kannst du deine Gläubigkeit nicht mehr spielen. Denn du bist dem allwissenden, gnadenlosen Blick Gottes ausgesetzt.« Wenn mein Vater nicht konvertiert wäre, würde er noch leben , dachte er. Und ich wäre ein anderer Mensch geworden.
    Â»Aber der Gott der Verborgenen ist doch sicher barmherzig?«, rief Kaede aus.
    Â»Vielleicht zu den Gläubigen. Alle anderen sind zur ewigen Hölle verdammt.«
    Â»Das kann ich nicht glauben!«, sagte Kaede nach kurzem, intensivem Nachdenken.
    Â»Ich auch nicht. Aber genau das glauben die Verborgenen und die Fremden glauben es auch. Wir müssen uns sehr vor ihnen hüten, denn wenn sie meinen, wir seien alle längst verdammt, könnten sie es für gerechtfertigt halten, uns mit Verachtung oder Bosheit zu begegnen.«
    Er sah, wie Kaede erschauderte, und befürchtete, sie könnte von einer Vorahnung erfasst worden sein.

KAPITEL 20

    Im achten Monat fand das Totenfest statt. Meeresstrand und Flussufer wimmelten von tanzenden Menschen, deren Silhouetten sich scharf vor den lodernden Feuern abzeichneten, und auf dem dunklen Wasser trieben unzählige Lampen. Man hieß die Toten willkommen, bewirtete und verabschiedete sie mit der üblichen Mischung aus Trauer und Freude, Furcht und Berauschtheit. Maya und Miki entzündeten Kerzen für Kenji, den sie sehr vermissten, doch ihre aufrichtige Trauer hinderte sie nicht an ihrem neuesten Zeitvertreib, dem Quälen von Sunaomi und Chikara. Sie hatten die Gespräche der Erwachsenen belauscht und wussten daher von dem Vorschlag, einen der Jungen oder sogar beide zu adoptieren, und sie merkten, wie gern Kaede ihre Neffen hatte, und bildeten sich ein, sie zöge sie vor, weil es Jungen waren.
    Man erzählte ihnen nichts von Kaedes Schwangerschaft, aber wie alle aufmerksamen, wachen Kinder ahnten sie etwas, und dass nicht offen darüber gesprochen wurde, trug noch weiter zu ihrer Verwirrung bei. Die Sommertage waren lang und heiß und alle waren gereizt. Shigeko schien mühelos in das Erwachsenendasein gewechselt und sich den Zwillingen so entfremdet zu haben. Sie verbrachte mehr Zeit mit ihrem Vater, erörterte den im nächsten Jahr anstehenden Besuch in der Hauptstadt und andere Staatsangelegenheiten. Shizuka war mit der Führung des Stammes

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