Der Clan der Wölfe 1: Donnerherz (German Edition)
Geschöpfe um ihn herum? Er hatte nicht viel kennengelernt in seinem kurzen Leben, aber jetzt kannte er gar nichts mehr. Riechen, Schmecken, Fühlen, die einzigen Sinne, die er besaß, waren abgestorben, verhungert. Er spürte, wie er in eine Leere davontrieb, die weder Leben noch Tod war, nur ein grässliches Nichts. Und mit dieser Leere kam die Taubheit.
Dann regte sich etwas – ein Beben – und mit diesem Beben drang ein neues Element in sein kaum noch pulsierendes Leben ein. Das Krachen des aufbrechenden Flusseises war so laut und furchterregend, dass es selbst durch die versiegelten Ohren des kleinen Welpen drang. Und plötzlich schnitt ein Brüllen durch seinen Kopf. Das Eis unter ihm bäumte sich auf, sodass er fast von dem Eissims heruntergerutscht wäre, doch er bohrte seine scharfen kleinen Klauen ins Eis und klammerte sich mit aller Kraft daran fest.
Es war eine grausame Ironie des Schicksals, dass dem hilflosen Wolfsjungen zwei lebenswichtige Sinne vor der Zeit verliehen wurden – Sehen und Hören. Und das genau in dem Moment, als der winterstarre Fluss zu erwachen begann und sich aus seinem Eispanzer befreite. Vielleicht war es der Schock, der seine verschlossenen Augen und Ohren öffnete.
Der Fluss brach jetzt immer schneller auf und setzte wilde Wasserstrudel frei, die an den Ufern zerrten, Bäume entwurzelten und Felsbrocken mit sich rissen. Das Eis unter dem kleinen Welpen ächzte gefährlich und fing an zu kippen. Dann ertönte ein gewaltiges Krachen, das ihm fast die Ohren zerfetzte. Licht blitzte in seine Augen, als der Mond die Eisschollen streifte, die den Fluss hinunterdonnerten.
In seinem Gedächtnis regte sich dunkel eine andere, frühere Gewalt: die Geburt. Er war aus der Wärme der Gebärmutter hinausgeschleudert worden und in die Hände von Mächten geraten, die größer waren als er. Sein kleiner Körper kam nicht gegen die Kontraktionen an, die ihn hinausdrängten. Und jetzt geschah es wieder. Nur diesmal wurde er nicht aus der schützenden Wärme der Gebärmutter vertrieben, sondern rutschte in das eisige Wasser des tosenden Flusses. Verzweifelt krallte er sich mit der gespreizten Pfote fest, die mehr Halt fand als die anderen drei. Er kämpfte um sein Leben, klammerte sich mit aller Kraft an dem Eissims fest, das zum restlichen Treibeis in den Fluss gestürzt war.
Warum ließ er nicht los? Es wäre viel leichter, viel weniger qualvoll gewesen – einfach loslassen, ins Wasser rutschen und ertrinken. Aber der junge Wolf folgte blind seinem Instinkt und dieser Instinkt befahl ihm, sich festzuklammern, nicht aufzugeben. Nach einer Weile öffnete er die Augen ein wenig mehr und sah den Glanz des Vollmonds im Fluss.
Seine erste Lektion: Er konnte die Augen auf das Licht einstellen. Sein erster Gedanke: Was kann ich noch einstellen oder verändern? Konnte er vielleicht auch die Wärme zurückholen, die er einst gekannt hatte? Den Milchgeruch, den süßen Geschmack auf seiner Zunge? Die Weichheit der zappelnden Fellkugeln, die um ihn herumpurzelten, wenn sich alle gierig nach der Milch drängten? Das tröstliche, rhythmische Pochen unter dem Fell, tief drin in der Milchgeberin, das er spürte, wenn er sich zum Saugen anklammerte?
Eisiges Wasser schwappte über ihn hinweg und trotzdem klammerte er sich weiter fest. Hin und wieder spürte er, wie das Eis herumwirbelte. Dann wurde ihm schlecht und schwindlig. Er musste die Augen schließen, um wieder ins Gleichgewicht zu kommen, um den Halt nicht zu verlieren. Plötzlich gab es einen Ruck, sein Eisfloß riss sich los und trieb weiter den tobenden Fluss hinunter. Die Hinterläufe des kleinen Wolfs hingen jetzt über den Rand des Eises hinunter und wurden taub im eisigen Wasser. Die Taubheit kroch immer weiter durch seinen Körper. Es war kein unangenehmes Gefühl, aber zugleich schien etwas anderes in ihm zu schwinden, aus seinem tiefsten Inneren zu sickern. Seine Klauen verloren allmählich den Halt.
Erneut ging ein gewaltiger Ruck durch ihn hin. Das Letzte, was er hörte, war das Scharren seiner Klauen, die hilflos über die kläglichen Überreste des Eisfloßes schlitterten.
In jener Sturmnacht erhob sich ein Brüllen, so gewaltig, dass es selbst den tosenden Fluss und den heulenden Wind übertönte. Die Schreie der Grizzlymutter ließen das Ufer erbeben, an dem sie saß. Ihr Schmerz war so groß, dass er die Luft aus der Erde zu saugen schien. Die langen eisverkrusteten Haare auf ihrem Rücken zitterten, sodass ihr
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