Der Club der Gerechten
geblieben.
Hätte er es nur ignoriert und wäre weiter gegangen; hätte er den unterdrückten Schrei genauso überhört wie die Alarmanlagen der Autos, die auf der Straße ständig loswimmerten, wäre alles in Ordnung gewesen.
Aber ein Schrei war keine Alarmanlage, und ohne zu überlegen hatte er sich von der Treppe abgewandt und war zum Ende des Bahnsteigs gelaufen.
Was er in dem schattenlosen, grell fluoreszierenden Licht, das die weiß gekachelte U-Bahnstation erhellte, zu sehen bekam, war eindeutig: Eine Frau, die mit dem Gesicht nach unten ausgestreckt auf dem Boden lag.
Ein Mann, der Jeff den Rücken zukehrte, kniete neben ihr und zerrte an ihrer Kleidung.
Jeff kam gar nicht auf die Idee, sich abzuwenden. Stattdessen begann er zu rennen, auf den knienden Mann zu, und schrie aus voller Lunge so laut er konnte. Erschrocken blickte der Mann über die Schulter zurück und stand dann auf. Aber als Jeff sich auf ihn stürzte, drehte der Mann sich nicht zu ihm um, verteidigte sich nicht. Zu Jeffs Überraschung sprang er vom Bahnsteig auf die U-Bahngleise und verschwand im dunklen Tunnel. Als Jeff die Frau erreichte, war der Angreifer fort. In der Ferne hörte Jeff das Donnern eines näher kommenden Zugs, doch er ignorierte das Geräusch, richtete seine ganze Aufmerksamkeit auf die Frau.
Sie lag noch immer mit dem Gesicht nach unten. Jeff nahm ihr Handgelenk und fühlte ihr den Puls. Als die Arterie unter seinen Fingern pochte, drehte er die Frau vorsichtig um.
Ihre Nase war zerschmettert, ihr Unterkiefer angeschwollen, und ihr Gesicht war blutüberströmt. Während der Zug donnernd einfuhr und anhielt, öffnete die Frau die Augen. Sie fixierte ihn eine Sekunde und schien plötzlich wieder lebendig zu werden. Sie schrie und kratzte ihm mit den Fingernägeln einer Hand das Gesicht auf. Er packte ihr Handgelenk, und sie hob die andere Hand, kratzte ihn. Jeff hatte keine Ahnung, wie lange der Kampf dauerte – vielleicht nur Sekunden, vielleicht eine halbe Minute. Noch während er versuchte, die wild um sich schlagende Frau unter sich festzuhalten, packten ihn zwei Hände an den Schultern und zerrten ihn von ihr weg.
»Sie ist verletzt...«, begann Jeff. »Jemand ...« Doch bevor er zu Ende sprechen konnte, wurde er grob mit dem Gesicht nach unten auf den Bahnsteig geworfen.
Seine Arme wurden nach hinten gerissen.
Und der Albtraum begann.
Als sich die Handschellen um seine Gelenke schlossen, erklärte ihm jemand, er müsse nichts sagen.
Sie brachten ihn in die Polizeistation auf der West 100 th Street.
Wieder sagte man ihm, er habe das Recht zu schweigen, aber da er wusste, dass er nur versucht hatte, der Frau auf dem U-Bahnsteig zu helfen, kam er gar nicht auf die Idee, einen Anwalt zu verlangen, bevor er berichtete, was geschehen war. Er erzählte ihnen alles – und erzählte es ihnen immer wieder, auch als er in die Räder des Systems geriet.
Inzwischen hatten sie ihm seine Uhr, seinen Fakultätsring, die Schlüssel und die Brieftasche abgenommen; ein Computer hatte seine Fingerabdrücke überprüft, und sie hatten festgestellt, dass er nicht vorbestraft war. Als sie ihn endlich in den Verhörraum der Kriminalabteilung setzten und noch einmal aufforderten, genau zu schildern, was passiert war, hatte er die Geschichte schon drei-oder viermal erzählt.
Auch noch als sie ihn in die Haftzelle der Kriminalabteilung sperrten, war er überzeugt, dass es bald vorbei sein würde. Sobald die Frau vom Bahnsteig sich beruhigt hatte, würde sie sich erinnern.
Sie würde der Polizei alles sagen.
Und dann würde es ein Ende haben.
Als sie ihn fragten, ob er jemand anrufen wolle, dachte er zuerst an seine Eltern, überlegte es sich dann aber anders – beide waren so weit draußen auf Long Island, was konnten sie schon tun? Außerdem war alles ein Irrtum, warum sollten sie sich die ganze Nacht sorgen, wenn er am Morgen doch wieder zu Hause sein würde. Endlich entschied er sich für Heather Randall, sicher, dass sie noch in seinem Apartment auf ihn wartete. Aber noch ehe er anrufen konnte, erschien sie selbst in der Polizeistation.
»Mein Vater soll sich um die Sache kümmern und feststellen, was los ist«, sagte sie. »Mach dir keine Sorgen, wir holen dich in einer Stunde raus.«
Aber sie hatten ihn nicht heraus geholt. Die Polizei ließ ihn nach einer Stunde wieder mit Heather sprechen, und sie informierte ihn über den Stand der Dinge.
»Die Frau wird operiert, doch das Letzte, was sie gesagt hat, war, dass du
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