Der Code des Luzifer
Luft überzog den Boden mit einer dünnen Eiskruste, die unter Max’ Füßen knirschte. Das war ihm zu unheimlich. Und er war ja auch nicht zum Vergnügen hier. Schnell ging er zum anderen Ende der Halle, zwang sich, nicht nach hinten zu sehen – falls die Toten wieder zum Leben erweckt wurden. Die Tiere sahen alle so aus, als hätten sie gewaltigen Hunger.
Eine doppelte Stahltür versperrte ihm den Ausgang. Klinke, Knauf oder Codekästchen – Fehlanzeige. Nichts. Die wurde offenbar per Fernbedienung auf- und zugemacht. Weiter hinten war durch ein Loch in der Wand ein kleiner Wasserfall zu sehen. Er war nicht breiter als der Eistunnel, durch den er gerade heruntergerutscht war. Das Wasser schäumte weiß, bevor es, wieder schwarz, in der Tiefe verschwand. Offenbar Schmelzwasser, das von weit oben kam.
Er schob sich näher an das donnernde Wasser heran, zwängte die Schultern in die Höhlung in der Wand. Wie Wespenstiche stach ihn das Nass ins Gesicht, das Tosen war ohrenbetäubend,doch im Hintergrund hörte er noch ein anderes Geräusch. Kaum erkennbar zunächst, doch es hörte sich an wie ein Platschen, wie Wasser, das auf anderes Wasser traf. Da musste so etwas wie eine Rinne sein, ein natürlicher unterirdischer Wasserlauf. Etwas Ähnliches hatte Max mal bei einem Schulausflug in einer Höhle gesehen. Wie tief fiel das Wasser, bevor es unten in einen See stürzte? Und war der groß oder klein? Auf jeden Fall lag er tiefer als diese Eishöhle.
Es konnte eine Kammer sein, die unterhalb des Kamins lag, zu schmal, um da hindurchzuklettern. Der Wasserlauf war der einzige Weg dorthin.
Doch das war extrem gefährlich. Extrem war sogar noch untertrieben. Aber es war ein Risiko, das er eingehen musste. Max nahm eine große Mülltüte aus seinem Rucksack und zog sich aus. Mit jeder Schicht Kleidung, die er ablegte, wurde die Kälte unangenehmer. Zu lange durfte er nicht so bleiben, sonst kühlte er so stark aus, dass er nichts mehr machen konnte. Nachdem er seine Sachen in der Tüte verstaut und diese in den Rucksack gestopft hatte – jetzt trug er nur noch Boxershorts und Turnschuhe, deren feste Sohlen ihn bei seinem Weg nach unten vor scharfen Kanten schützten –, freute er sich schon darauf, wenn er sie nach seinem Vorhaben trocken wieder anziehen konnte. Er zitterte wie Espenlaub. Man musste einschätzen können, was eiskaltes Wasser mit einem machte, wenn man das überleben wollte. Kaltes Wasser kühlt den Körper fünfundzwanzigmal schneller aus als kalte Luft. In dem Augenblick, in dem Max in die Rinne stieg, würde sein Blutdruck steigen und er würde hyperventilieren – sehr gefährlich. Der plötzliche Schock würde verhindern, dass er den Atem anhalten konnte. In kaltem Wasser sind schon die stärksten Schwimmer ertrunken. Zu wissen, was ihn erwartete, half ihm zwar zu überleben, abernicht zu wissen, wie lange er in dem Wasser sein würde, machte ihm Angst. Nach drei Minuten würde seine Körpertemperatur sinken, dann begann die Unterkühlung und seine Muskeln und Glieder wurden steif.
Fachleute nannten das den plötzlichen Kaltwassertod.
Max schnallte sich den Rucksack vor die Brust – auf die Art war er das kleinere Hindernis und gab ihm außerdem Auftrieb. Er kletterte auf den Felsvorsprung, bemühte sich, sein Zähneklappern unter Kontrolle zu kriegen, holte tief Luft und schloss sie mental in seiner Lunge ein. Er brauchte diesen Atemzug so lange wie möglich.
Kaum war er im Wasser, begann er zu keuchen und vergeudete dadurch lebenswichtigen Sauerstoff. Wasser platschte ihm auf den Kopf, sein Nacken fühlte sich an, als würde ihn jemand mit Eiszapfen traktieren, und seine Kehle zog sich vor Kälte zusammen. Reiß dich zusammen, reiß dich zusammen!, rief ihm eine innere Stimme zu. Er unterdrückte das dringende Bedürfnis zu schreien, als er merkte, dass der glatte Fels unter seinen Füßen verschwand. Nach zwanzig Sekunden tauchte er aus dem Dunkel in schwaches Dämmerlicht. Kaum hatten seine brennenden Augen die Fallhöhe erfasst – höchstens drei oder vier Meter –, platschte er auch schon in ein Wasserbecken.
Es war, als flössen Glasscherben durch seine Adern. Die Kälte packte ihn am Wickel – sehr schnell. Er konnte sich nicht mehr bewegen, seine Arme waren nutzlos geworden, sein Geist nicht mehr in der Lage, die tiefe Müdigkeit zu begreifen, die ihn zu ersticken drohte. Bilder tanzten vor seinem inneren Auge. Schnee und Eis türmten sich an den Rändern des Beckens unter ihm,
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