Der Code des Luzifer
Gesicht nach unten im Wasser und bekam keine Luft mehr.
Es ging so schnell, dass er seine Gedanken noch gar nicht ordnen konnte, als das Wasser schon mit voller Kraft gegen seinen Rucksack schlug, den er immer noch vor die Brust geschnallt hatte, und ihn mit der Strömung nach oben riss. Im selben Augenblick konnte er sich so drehen, dass er auf den mit Stroh ausgeschütteten Boden des Käfigs fiel, an dessen Stäbe er sich eben noch geklammert hatte.
Er lag still da, spürte noch nicht einmal das stachlige Stroh auf seiner gefrorenen Haut, die bläulich angelaufen war. Doch er lebte. Das Rauschen des Wasserfalls kam ihm vor wie ein Schlaflied. Es war nicht mehr bedrohlich, sondern bot seinem geschundenen Körper eine tröstliche Zuflucht. Das zweite Geräusch, das er hörte, konnte er nicht deuten – es war ein beharrliches, verzweifeltes Kratzen.
In seinem Kopf schrillte laut und deutlich eine Alarmglocke. Er brauchte Wärme und Nahrung. Sein Körper gierte förmlich nach Zucker und Kohlehydraten. Das tiefe Stroh stank nach Tier, aber Max hätte sich mit Freuden noch tiefer hineingewühltund geschlafen. Doch stattdessen zwang er seine schmerzenden, zitternden Glieder, aufzustehen und seinen Rucksack aufzumachen. Es war noch alles trocken. Er fuhr mit beiden Armen hinein und tastete nach dem Schokoriegel, den er eingesteckt hatte. Er riss das Einwickelpapier mit den Zähnen ab und schob sich den Inhalt in den Mund. Früchte, Nüsse und Schokolade klebten an seinen Zähnen. Er saugte und kaute, immer noch zitternd, aber überglücklich, als die Energie in seinem Magen ankam. Er zog die trockenen Sachen hervor, doch er musste erst seinen Blutkreislauf in Schwung bringen, musste sich Wärme in die Haut rubbeln. Ein Stapel Säcke lehnte an der Wand hinter der Käfigtür. Er versuchte sie aufzustoßen. Der Riegel bewegte sich nicht. Max schob eine Hand durch die Stäbe. Die Feuchtigkeit hatte den Riegel verklemmt, er saß fest. Er ruckelte mit beiden Händen daran, doch der Riegel wackelte nur ein bisschen. Wenn er mit dem Handballen daran schlug, würde er sich verletzen. Er zog einen seiner durchweichten Schuhe aus, fuhr mit der Hand hinein und benutzte ihn als Polster für seine Faust.
Dann begriff er, was das Kratzgeräusch war.
Der Eisbär stand, hoch aufgerichtet, in voller Größe auf der anderen Seite der Eiswand – zwischen Max und der Stelle, wo der Bär stand, befanden sich keine Gitterstäbe. Er kratzte so wild, um zu Max zu gelangen. Und mit seinen mächtigen Tatzen würde dieser Gigant die einen halben Meter dicke Wand schnell niedergerissen haben.
Max’ Kräfte waren immer noch nicht zurückgekehrt, aber er musste schnell handeln und schlug deshalb so fest, wie er konnte, auf den widerspenstigen Riegel ein. Er spürte die Wucht seiner Schläge bis in die Schulter.
Die eisige Wand gab nach. Ein Loch brach schon heraus, großgenug, dass der Bär seine Tatze und seine Schulter durchstecken konnte. Er brummte und knurrte, offenbar freute er sich, bald an eine Mahlzeit zu kommen. Auch Max stieß ein Knurren aus, während er auf den eingerosteten Riegel einschlug.
Inzwischen roch er den Bären schon. Von seiner Schnauze stiegen Atemwolken auf, er zwängte seinen Kopf tiefer durch das Loch. Dann trat er zurück und kratzte weiter, bis er seinen Körper mit den Hinterbeinen voran noch weiter hindurchschieben konnte.
Max spürte, wie der Riegel nachgab. Er schrie so laut, wie er konnte, legte alle Kraft in den nächsten Schlag und führte ihn mit voller Wucht aus. Endlich geschafft. Die Schulter gegen die Käfigtür stemmend, kam er hinaus. Der Bär stieß durch die Eiswand wie ein Stuntman, der durch ein Fenster springt. Eis zersprang in tausend Stücke, der Bär geriet ins Straucheln, und dann war er auf allen vieren und hielt auf Max zu.
»Nicht heute!«, schrie Max ihm zu. »NICHT HEUTE!« Und lachte wie ein Verrückter, als der Bär sich gegen die Eisentür drückte, die Max gerade noch hinter sich hatte schließen können. Nur wenige Meter von dem frustriert brummenden Bären sackte er zusammen und wiederholte sein Mantra – zu mehr war sein Kopf anscheinend nicht mehr in der Lage. »Nicht heute. Nein, nicht heute. Vielen Dank, nicht heute. Ich steh heute nicht auf der Speisekarte.«
Die Furcht entließ ihn zu guter Letzt aus ihren Krallen, nur die Kälte gab ihn noch nicht frei. Er war so erledigt wie noch nie zuvor in seinem Leben. Er erschauderte und eine Woge der Erleichterung erfasste ihn.
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