Der Code des Luzifer
und die Reste von etwas Dunklem, Blutigem beschmutzten den klumpigen Schnee. Das war das Ende. Er hatte gespielt und verloren, und jetzt würde ihn das dunkle Eis verschlingen.Mit leisem Stimmchen meldete sich sein Überlebenswille ein letztes Mal und sagte ihm, er habe noch Zeit für einen allerletzten Atemzug. Dann ging er unter.
Der Aufprall, der Wasserwiderstand und dann das Gefühl zu schweben. Abwärts. Nicht mehr stehen können. Zu tief. Die Kälte wich. Das bedeutete, dass er die schreckliche Wirkung der Temperatur auf seinen Körper entweder schon nicht mehr spürte und tief in Ohnmacht fiel oder dass er ein dickes Fell hatte wie ein junger Eisbär.
Das Wasser in dem Becken war einen Hauch wärmer, nicht viel, und sein Salzgehalt brannte ihm in den Augen. Im ersten Moment kam es ihm so vor, als ströme Tageslicht in die Tiefe, doch dann sagte ihm sein schmerzhaft kalter Kopf, dass das nicht sein konnte. Das war künstliches Licht und sollte etwas beleuchten, was unterhalb des Wassers war. Aber was konnte das sein?
Ein weißes Ungeheuer platschte ins Wasser. Ein ausgewachsener Eisbär. Seine riesigen Tatzen, dreißig Zentimeter breit, zerteilten das Wasser. Da hatte er seine Antwort.
Aus Angst gespeiste Kraft durchströmte ihn. Er paddelte wie ein Hund, schaufelte das Wasser unter sich weg, strampelte mit den Beinen. Atembläschen strömten aus seinen Nasenlöchern, als er durch das Halbdunkel schaute. Er erblickte weiße Strudel in den herabstürzenden Wassermassen, die ihren Weg durch das Becken nahmen und über einer Felsnase verschwanden.
Max wagte einen Blick nach hinten. Der Eisbär schwamm in dem tiefen Becken, seine breiten Tatzen schoben das Wasser fast gemächlich, wie in Zeitlupe zur Seite. Alles Einbildung. Der Bär war so stark, dass die Kraft, die er aufwendete, mühelos aussah. Wenn er den Eindringling in seinem Territorium erwischte, würde er mit furchtbarer Gewalt über ihn herfallen.
Der Weg, den das fließende Wasser nahm, war die Fluchtroute. Max war nicht klar, wie er es geschafft hatte, so lange unter Wasser zu bleiben, oder wie sein Körper die Kälte kompensiert hatte, aber er schwamm so schnell er konnte und streckte eine Hand nach dem dicken Eis auf dem Felsvorsprung aus, um sich aus dem Wasser zu ziehen. Das aber verhinderte der Rucksack an seiner Brust. Der Horror, dass seine Beine im Wasser baumelten, während das Raubtier nur noch einige Meter hinter ihm war, verlieh ihm neue Kräfte. Er warf sich herum und schaffte es, sich auf einem Ellbogen hochzustemmen und so aus dem Wasser zu kommen.
Auf allen vieren kletterte er auf den Felsen, mitten durch die blutigen Überreste des Seehunds hindurch. Er wollte zu der Rinne, die das Wasser ableitete. Zu seiner Linken versperrte ihm eine Eiswand den Weg – doch das Platschen des Wassers hinter ihm sagte ihm, dass der Eisbär aus dem Wasser heraus und nur einen Sprung weit von ihm entfernt war. Max tauchte in die Rinne. Er ahnte den Eisbären mehr, als dass er ihn spürte, hörte sein Brüllen, seine durch die Luft sausende Tatze, die Max verfehlte und in die Eiswand schlug. Es klang, als fahre jemand mit den Fingernägeln über eine Wandtafel.
Er war dem sicheren Tod nur um Sekunden entgangen, aber wenn er in dieser schnellen Strömung blieb, würde er zu dem Wasserfall getrieben, der am Ende der Felshöhle, vierzig Meter von ihm entfernt, in die Tiefe donnerte. Max warf einen Arm zur Seite und bekam etwas Kaltes, Hartes zu fassen. Stahl. Den Rand eines stählernen Käfigs.
Er hatte keine Kraft mehr in sich. Der Strömung standzuhalten und sich über den Rand des Kanals in den Käfig zu ziehen, würde er nicht schaffen. Besser, jetzt gleich zu sterben. Einfach loszulassen und zu sterben. Es wäre ganz leicht.
Plötzlich hatte er Sayids Gesicht vor Augen, wie er ihn vom Rücksitz des Taxis ansah, das ihn zum Flughafen in Biarritz brachte. Seitdem hatte er seinen Freund nicht mehr gesehen. Es traf ihn wie ein Faustschlag in den Magen – sein Freund brauchte ihn. Deswegen war Max hier! Was ging ihn ein Verrückter an, der irgendein Unheil plante? Er wollte nur seinen Freund retten. Aber dazu musste er erst einmal überleben.
Max fasste fester zu. Er würde nicht aufgeben, aber die Anstrengung, die das kostete, war immer noch zu groß. Doch dann nahm die Natur die Sache in die Hand. Das Wasser wirbelte ihn herum; ihm wurden die Beine weggezogen, er hielt sich an dem Gitter des Käfigs fest, lag aber jetzt bäuchlings, mit dem
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