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Der Codex

Titel: Der Codex Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Douglas Preston
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sie mit ernster Stimme.
    Tom empfand plötzlich Angst. »Geht's um Philip?«
    »Nein. Um Don Alfonso.«
    Tom stand auf und folgte ihr unter dem Stamm zu der Stelle, an der Don Alfonsos Hängematte direkt über dem feuchten Boden baumelte. Ihr Führer lag auf der Seite und musterte die Sierra Azul. Tom hockte sich neben ihn und nahm seine welke alte Hand. Sie war heiß.
    »Tut mir Leid, Tomasito, aber ich bin ein nutzloser alter Mann. Ich bin so nutzlos, dass ich sterbe.«
    »Sagen Sie nicht so was, Don Alfonso.« Tom legte seine Hand auf die Stirn des Indianers und bekam einen Schreck, denn sie war sehr heiß.
    »Der Tod ruft mich. Da kann man nicht sagen: >Komm nächste Woche wieder; ich muss noch was erledigen^«
    »Haben Sie in der letzten Nacht wieder von Petrus oder dergleichen geträumt?«, fragte Sally.
    »Man braucht nicht von Petrus zu träumen, wenn man weiß, wann das Ende gekommen ist.«
    Sally schaute Tom kurz an. »Hast du irgendeine Ahnung, was er hat?«
    »Ohne richtige Diagnose, ohne Blutbild oder ein Mikroskop ...« Tom murmelte eine Verwünschung, dann stand er auf und kämpfte gegen eine Woge des Schwindels an. Wir sind fertig, dachte er. Es machte ihn eigenartigerweise wütend. Es war ungerecht.
    Er verdrängte die nutzlosen Gedanken und schaute sich Philip an. Sein Bruder schlief. Er hatte, wie Don Alfonso, hohes Fieber. Tom war sich keinesfalls sicher, ob er je wi e der erwachen würde. Vernon zündete inzwischen ein Feuer an. Er ignorierte Don Alfonsos Einwände. Sally braute e i nen medizinischen Tee für den Sterbenden. Sein Gesicht war eingefallen und schien nach innen zu sinken; seine Haut verlor ihre Farbe und nahm einen wächsernen Ton an. Er atmete schwer, war aber noch bei Bewusstsein. »Ich werde Ihren Tee zwar trinken, Curandera«, sagte er, »aber Ihre Medizin wird mich nicht retten.«
    Sally hockte sich hin. »Sie reden sich ein, dass Sie sterben, Don Alfonso. Sie können es sich aber auch wieder ausr e den.«
    Don Alfonso nahm ihre Hand. »Nein, Curandera, meine Zeit ist gekommen.«
    »Das können Sie doch gar nicht wissen.«
    »Mein Tod wurde mir prophezeit.«
    »Hören Sie doch mit diesem absurden Unsinn auf. Sie können doch nicht in die Zukunft sehen!«
    »Als ich ein kleiner Junge war, hatte ich mal starkes Fi e ber. Da nahm meine Mutter mich mit zu einer Bruja - einer Hexe. Diese Bruja erzählte mir, ich müsse noch nicht ste r ben, denn ich würde fern von zu Hause sterben, unter Fremden - und im Angesicht blauer Berge.« Er warf einen Blick auf die Sierra Azul, die sich durch die Lücke zwischen den Baumwipfeln abzeichnete.
    »Vielleicht hat sie ja irgendwelche anderen blauen Berge gemeint.«
    »Sie hat diese Berge gemeint, Curandera, denn sie sind so blau wie das Meer.«
    Sally blinzelte eine Träne fort. »Hören Sie mit dem Quatsch auf, Don Alfonso.«
    Don Alfonso lächelte plötzlich. »Ist es nicht wunderbar, wenn eine schöne Frau am Sterbebett eines alten Zausels weint.«
    »Das ist nicht Ihr Sterbebett. Außerdem weine ich gar nicht.«
    »Machen Sie sich keine Sorgen, Curandera. Es kommt nicht überraschend für mich. Als ich zu dieser Reise au f brach, wusste ich, dass es meine letzte sein würde. In Pito Solo war ich ein nutzloser Greis. Ich wollte aber nicht als schwacher alter Trottel in meiner Hütte sterben. Ich, Don Alfonso Boswas, wollte als Mann sterben.« Er hielt inne, atmete ein und schauderte.
    »Ich habe mir natürlich nicht vorgestellt, dass ich unter einem verfaulten Baum im stinkenden Schlamm sterbe und euch allein lassen muss.«
    »Dann sterben Sie einfach nicht! Wir lieben Sie, Don Alfonso. Und die Hexe soll zur Hölle fahren!«
    Don Alfonso nahm ihre Hand und lächelte. »In einem hat sie sich übrigens geirrt, Curandera. Sie hat gesagt, ich wü r de unter Fremden sterben. Aber das stimmt nicht. Ich sterbe unter Freunden.«
    Don Alfonso schloss die Augen und murmelte etwas. Dann war er tot.

45
     
    Sally weinte. Tom stand auf und schaute weg. Er merkte, wie seine unerklärliche Verärgerung zunahm. Er spazierte ein Stück in den Wald hinein. Dann setzte er sich auf einer stillen Schneise auf einen Baumstamm und ballte die Fä u ste. Der alte Mann hatte kein Recht, sie zu verlassen. Er ha t te sich seinem Aberglauben völlig hingegeben. Er hatte sich das Sterben selbst eingeredet - und das nur, weil er die blauen Berge gesehen hatte.
    Tom dachte an den Tag zurück, an dem sie Don Alfonso begegnet waren: wie er auf dem kleinen Hocker in seiner

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