Der Codex
die Blätter des Waldes trommelnden Regens bohrte sich ihm in den Schädel. Er merkte, dass er wieder einzuschl a fen drohte, und öffnete die Augen. Sally leuchtete ihn in der Dunkelheit mit der Taschenlampe an.
»Ich gehe heute angeln«, sagte Tom.
»Du gehst nirgendwo hin«, erwiderte sie. Sie streckte eine Hand aus und berührte seine Stirn. Es gelang ihr nicht, die Angst zu verbergen, die sich auf ihrem Gesicht zeigte. »Ich bringe dir einen Tee.«
Sie kehrte mit einem dampfenden Becher zurück und half Tom, ihn zu leeren. »Schlaf weiter«, sagte sie.
Tom schlief weiter.
Als er erwachte, war es heller, aber es regnete noch i m mer. Sally beugte sich über ihn. Als sie sah, dass er die A u gen öffnete, versuchte sie zu lächeln.
Tom fröstelte trotz der erstickenden Hitze, die unter dem Baum in der Lagerstatt herrschte. »Philip?«, brachte er he r vor.
»Wie immer.«
»Vernon?«
»Er ist auch krank.«
»Verdammt.« Tom schaute Sally an. Panik packte ihn. »Und du? Wie geht's dir?« Ihr Gesicht sah gerötet aus. »Wirst du auch krank?«
Sally legte ihm eine Hand auf die Wange. »Ja, ich werde auch krank.«
»Ich werde wieder gesund«, sagte Tom. »Dann kümmere ich mich um dich. Wir kommen schon aus diesem Dreck raus.«
Sally schüttelte den Kopf.
»Nein, Tom. Daraus wird nichts.«
Die einfache Behauptung dieser Tatsache schien Toms pulsierenden Schädel zu klären. Das war es dann also g e wesen. Sie würden im Regen unter einem faulenden Baum krepieren. Raubtiere würden sie zerreißen. Und niemand würde je erfahren, was aus ihnen geworden war. Er ve r suchte sich einzureden, dass das Fieber aus ihm sprach, dass die Lage so schlimm nun doch nicht sei, aber insg e heim wusste er, dass es stimmte. In seinem Kopf drehte sich alles. Er versuchte sich zu konzentrieren. Sie würden ste r ben. Er öffnete die Augen.
Sally war noch bei ihm. Ihre Hand lag auf seiner Wange. Sie schaute ihn lange an. Ihr Gesicht war schmutzig, ze r kratzt und von Insekten zerstochen. Ihr Haar verfilzt und stumpf, ihre Augen lagen tief in den Höhlen. Wenn man von der leuchtenden Farbe ihrer Augen und der leicht vo r stehenden Unterlippe absah, hatte sie keine Ähnlichkeit mehr mit der jungen Frau, die in Utah ohne Sattel hinter ihm hergeritten war. »Wir haben nicht mehr viel Zeit«, meinte Sally schließlich. Sie verharrte und schaute ihn ko n zentriert an. »Ich muss dir was sagen, Tom.«
»Was denn?«
»Ich glaube, ich habe mich in dich verliebt.«
Die Realität kehrte mit unvermittelter Klarheit zu ihm zurück. Tom brachte kein Wort heraus.
»Nun ja«, fuhr sie rasch fort. »Jetzt ist es raus.«
»Und was ist mit ...?«
»Julian? Er ist der perfekte Traummann. Er sieht gut aus und ist intelligent. Außerdem hat er zu allen Themen die richtige Meinung. Er ist der Mann, den sich alle Eltern als Schwiegersohn wünschen. Er ist meine Sarah. Aber wer will die schon haben? Was ich für ihn empfunden habe, ist nicht das, was ich für dich empfinde - trotz all deiner ...« Sie lächelte zögernd. »Unzulänglichkeiten?«
Nachdem sie alles gesagt hatte, waren sämtliche Kompl i kationen fortgewischt. Nun war alles klar und einfach. Tom wollte etwas erwidern. Schließlich gelang es ihm, die Worte zu krächzen: »Ich liebe dich auch.«
Sarah lächelte. Ein winziges Aufflackern ihrer früheren Ausstrahlung zeigte sich. »Ich weiß. Und es freut mich. Tut mir Leid, dass ich so rotzig zu dir war. Es war purer Trotz.«
Sie schwiegen einen Augenblick.
»Ich glaube, ich habe dich von dem Augenblick an geliebt, als du mein Pferd geklaut und in Utah hinter mir hergeri t ten bist«, sagte Tom. »Aber richtig mitgekriegt habe ich's erst, als du den Jaguar nicht töten wolltest. Dafür werde ich dich immer lieben.«
»Als du mich ins Freie geholt hast, um mir den leuchte n den Wald zu zeigen«, sagte Sally, »da wurde mir klar, dass ich im Begriff war, mich in dich zu verlieben.«
»Du hast nie was gesagt.«
»Ich hab 'ne Weile gebraucht, um es zu verarbeiten. Wie dir vielleicht aufgefallen ist, bin ich stur. Ich wollte mir nicht eingestehen, dass ich mich geirrt hatte.«
Tom schluckte. In seinem Kopf drehte sich allmählich a l les. »Aber ich bin doch nur ein ganz normaler Typ. Ich bin nicht mit sechzehn nach Stanford gegangen ...«
»Normal? Ein Mann, der sich mit Jaguaren und Anakondas rauft? Wer führt schon Expeditionen mit Mut und Humor ins Herz der Finsternis an?«
»Ich hab's nur getan, weil ich dazu gezwungen
Weitere Kostenlose Bücher