Der Codex
unauffällig aus seinem Büro verdünnisierte.
Hätte er die Wahrheit gewusst ...
38
Als sie von den Bergen herunterkamen, änderte sich der Regenwald. Das Gelände war äußerst uneben und von ti e fen Schluchten und reißenden Flüssen durchzogen. Dazw i schen ragten hohe Firste auf. Sie folgten noch immer dem Wildwechsel, der hier jedoch so zugewachsen war, dass sie sich den Weg abwechselnd freihacken mussten. Beim Au f stieg rutschten sie auf den steilen, schlammigen Pfaden aus, und wenn es abwärts ging, fielen sie hin.
Tagelang kämpften sie sich voran. Es gab keine ebene Stelle, an der man lagern konnte, deswegen waren sie gezwungen, ihre Hängematten am Abhang zwischen den Bäumen aufzuspannen und die ganze Nacht im Regen zu schlafen. Morgens war der Dschungel finster und dunstig. Wenn sie sich anstrengten, legten sie an einem Tag ungefähr acht K i lometer zurück, und wenn er sich dem Ende entgegennei g te, waren alle völlig erschöpft. Zum Jagen kamen sie kaum. Sie hatten nie genug zu essen. Tom war noch nie im Leben so hungrig gewesen. Nachts träumte er von riesigen Steaks und Pommes frites; tagsüber dachte er an Eiscreme und mit Butter bestrichenen Hummer. Wenn sie abends am Lage r feuer saßen, redeten sie nur übers Essen.
Die Tage summierten sich. Der Regen hörte niemals auf. Auch der Dunst verflüchtigte sich nicht. Ihre Schlafsäcke verfaulten und mussten neu geflochten werden. Ihre Kle i der fielen allmählich auseinander. Milben setzten sich in ihren Sachen fest und gruben sich in ihre Haut. Die Nähte ihres Schuhwerks lösten sich auf. Da sie keine Kleider zum Wechseln hatten, würde der Dschungel sie bald nackt d a stehen lassen. Ihre Leiber waren von Stichen, Bissen, Schrammen, Schnitten, Schorf und wunden Stellen übersät. Als Vernon aus einer Schlucht herauskletterte, glitt er aus und griff nach einem Busch, um den Sturz zu mildern. Da r aufhin ergoss sich eine Flut von Feuerameisen über ihn, die ihn so bösartig attackierten, dass er vierundzwanzig Stu n den Fieber hatte und kaum gehen konnte.
Die einzige versöhnliche Eigenschaft des Regenwaldes war seine Vegetation. Sally entdeckte eine Unmenge Hei l pflanzen und konnte so eine Kräutersalbe für sie zusa m menstellen, die bei Insektenstichen und Pilzinfektionen Wunder wirkte. Sie tranken auch einen von Sally gebrauten Tee, von dem sie behauptete, er sei ein Antidepressivum. Er hielt sie allerdings nicht davon ab, sich weiterhin niederg e schlagen zu fühlen.
In den Nächten und am Tag hörten sie ständig das Fa u chen des umherschleichenden Jaguars. Zwar ließ niemand ein Wort über ihn fallen - Don Alfonso hatte es schließlich untersagt -, doch Tom ging er nie ganz aus dem Sinn. B e stimmt lebten in diesem Wald andere Tiere, an denen der Jaguar sich gütlich tun konnte. Was wollte er von ihnen? Warum verfolgte er sie, ohne je zuzuschlagen?
In der vierten oder fünften Nacht - Tom hatte inzwischen die Übersicht verloren - lagerten sie, zwischen gewaltigen verfaulenden Baumstämmen eingeklemmt, auf einem Bergkamm. Es hatte geregnet. Dampf stieg vom Boden auf. Sie aßen früh zu Abend - gekochte Eidechse mit Mattawurzel. Nach dem Essen stand Sally auf und nahm das Gewehr.
»Ob der Jaguar nun hier rumschleicht oder nicht - ich gehe jetzt jagen.«
»Ich komme mit«, sagte Tom.
Sie gingen an einem schmalen Bach entlang, der vom Lagerplatz aus abwärts strömte und durch eine Klamm füh r te. Der Tag war grau. Der sie umgebende Wald wirkte schlaff und verwahrlost. Die Vegetation dampfte. Das G e räusch tropfenden Wassers mischte sich mit dem hohlen Krächzen der Vögel.
Eine halbe Stunde lang suchten sie sich einen Weg durch die Klamm, über bemooste Findlinge und Baumstämme hinweg, bis sie an einen rasch dahinströmenden Fluss k a men. Sie gingen hintereinander durch Dunstschleier an ihm entlang. Nach Toms Ansicht bewegte Sally sich fast wie eine Katze, denn sie pirschte praktisch lautlos durchs U n terholz.
Dann blieb Sally stehen und machte eine einhaltende G e ste mit der Hand. Sie hob langsam das Gewehr, legte an und feuerte.
Ein Tier trat kreischend im Unterholz um sich, doch die Geräusche erstarben schnell.
»Ich weiß nicht, was es war, aber es sah stämmig aus und hatte ein Fell.« Schließlich fanden sie ihre Beute in den Büschen: Sie lag auf der Seite, alle viere in die Luft gereckt.
»Irgendeine Wildschweinart.« Tom musterte den Kadaver angewidert. Er würde sich nie daran gewöhnen, Tiere zu
Weitere Kostenlose Bücher