Der Colibri-Effekt
doch der Zeiger des Scanners drehte sich immer in Richtung
Führerhaus des Pick-ups. Sicherheitshalber ließ er das Gerät noch einmal
suchen, aber das Ergebnis blieb gleich. Immerhin war die gute Nachricht, dass
ansonsten keine versteckten Peilsender angezeigt wurden. Weder am Wagen noch an
ihm selbst. Da er keine Lust verspürte und erst recht keine Zeit hatte, das
Auto nach dem Sender abzusuchen, und sein unbekannter Feind sowieso wusste, mit
welchem Fahrzeug er unterwegs war, gab es nur eine richtige Entscheidung.
Er nahm
den Seesack mit seinen wenigen Habseligkeiten, zog sich eine gefleckte
Tarnjacke über, die er hinten im Pick-up gefunden hatte, und schloss den Wagen
ab. Dann folgte er den Koordinaten seines Armes, die er in das Navigationsgerät
eingegeben hatte. Während er mit der Tasche über der Schulter und dem Navi in
der Hand zum Hafen lief, machte er sich ein Bild von der Stadt. Schließlich
hatte er sich – aus was für Gründen auch immer – selbst
hierhergeschickt.
Risør, die
auch »weiße Stadt am Skagerak« genannt wurde, lag an der äußersten Spitze einer
Halbinsel zwischen dem Søndeled- und dem Sandnesfjorden und war eine der
ältesten und schönsten Städte Südnorwegens. Große Patrizierhäuser säumten die
Ufer des » Indre Havn « . Hier, so würde er bald
feststellen, sprach man nicht mehr den Sørlan-Dialekt, da er die geografische
Grenze zwischen den hart und weich gesprochenen Konsonanten bereits hinter sich
gelassen hatte.
Im Sommer
musste die Stadt einen für nordländische Verhältnisse fast südländischen Charme
entfalten. Schon jetzt herrschte auf der Uferpromenade in der Frühlingssonne
ein reges Treiben, das aber von dem Betrieb auf dem Wasser noch übertroffen
wurde. Am Südufer hatten meist größere Motorboote festgemacht, während an den
Bootsstegen des Nordufers etliche kleinere und größere Ruder- und Motorboote
lagen. Im Hafenbecken allein herrschte mehr Verkehr als auf einer
Kleinstadtkreuzung. Doch egal, ob Kinder in kleinen motorbetriebenen
Ruderbooten oder Möchtegernkapitäne auf großen Jachten. Alle schienen ihr
Handwerk zu verstehen. Insgesamt machte Risør den Anblick einer putzigen
norwegischen Hafenstadt.
Er
blickte auf seine Armbanduhr. Kurz vor zehn Uhr an einem Sonntag, und er stand
mitten in einem Gewimmel von Menschen. Unauffällig beugte er sich über den Rand
der Hafenmole und ließ bei dieser Gelegenheit den Zündschlüssel vom Nissan ins
Wasser fallen. Zufrieden lehnte er sich zurück und sah sich um. Niemand hatte
etwas bemerkt, niemand schaute sich nach ihm um, niemand interessierte sich für
ihn, denn ganz Risør war damit beschäftigt, diesen grandiosen Frühlingstag zu
genießen. Sein Navigationsgerät wies ihn eindeutig nach links zum nördlichen
Hafen. In circa hundertzwanzig Metern würde er laut Angabe sein Ziel erreicht haben.
Er bemerkte, wie er nervös wurde und seine Hände zu zittern begannen. Was würde
ihn erwarten? Wahrscheinlich nichts, wie er sein Glück kannte, doch wenn er
sich nicht bald in Bewegung setzte, würde er es nie erfahren. Was hatte er
schon zu verlieren? Entschlossen machte er einen weiten Bogen nach links auf
die kleine Uferstraße mit dem Namen Solsiden. Das hier war wirklich die
Sonnenseite des Lebens. Überall standen kleine Bänke, auf denen man sich
niederlassen konnte. Alle waren bereits von Norwegern belegt, die die Sonne
aufsogen.
Plötzlich
überkam ihn eine große Ruhe. Ein Gefühl, das er auch in Bergen gespürt hatte,
als er vor dem »Bryggen Tracteurstedt« gestanden hatte. Geborgenheit. Auf der
Stelle hätte er vor Glück losheulen können. Er fühlte sich wie ein kleines
Kind, das voller Angst durch die Welt geirrt war und nun endlich das sichere
elterliche Haus erreicht hatte.
Tausend
Gedanken gingen ihm durch den Kopf. Wann würde wohl die Erinnerung an seine
Vergangenheit zurückkehren? Wer war er gewesen? Wie und wo war er aufgewachsen?
Wer waren seine Eltern? Hatte er Geschwister? Regungslos und versonnen blickte
er auf das Treiben im Hafen. Für einen Moment rückte alles, was ihn belastete,
in den Hintergrund. Er wollte einfach nur noch hier stehen und glücklich sein.
Und dennoch, die Fragen …
»Servus, HG , schö, dass du widder amal aufdauchsd«, sagte
plötzlich eine männliche Stimme hinter ihm.
Reflexartig
fuhr er herum und nahm eine gebückte Verteidigungshaltung ein. Doch der Mann,
der vor ihm stand, machte keine Anstalten, ihn anzugreifen. Im Gegenteil, der
Typ grinste
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