Der Courier des Czar
Das ist keine Antwort auf meine Frage. Warum, Michael, drängst Du jetzt so, in Irkutsk einzutreffen?
– Weil ich vor Iwan Ogareff dort sein muß! gestand ihr Michael Strogoff.
– Auch jetzt noch?
– Auch jetzt, und es wird mir gelingen!«
Diese letzten Worte betonte Michael Strogoff nicht nur aus Haß gegen den Verräther. Aber Nadia merkte es, daß ihr Begleiter ihr nicht Alles sagte, nicht Alles sagen durfte.
Drei Tage später, am 15. September, erreichten Beide den Flecken Kuitunskoë, siebzig Werst von Tulunowskoë.
Das junge Mädchen hielt sich nur mit äußerster Anstrengung noch aufrecht. Ihre wunden Füße versagten ihr fast den Dienst. Aber sie widerstand dem Schmerze, sie bekämpfte die Ermüdung; ihr einziger Gedanke war:
»Da er mich nicht sehen kann, will ich gehen, bis ich zusammenbreche!«
Uebrigens bot dieser Theil des Weges kein besonderes Hinderniß, keine Gefahren mehr, seit die Tartaren ihnen vorauszogen; nur die entsetzlichste Erschöpfung fühlten sie.
So ging es wieder drei Tage lang fort. Offenbar gewannen die Tartaren nach Osten zu schnell an Terrain. Das bewiesen die Ruinen längs des Weges, die Brandstätten, welche nicht mehr rauchten, die schon in Verwesung übergehenden Leichname an den Seiten der Straße.
Auch im Westen zeigte sich nichts. Der Vortrab des Emirs erschien nicht. Michael Strogoff erschöpfte sich in den unwahrscheinlichsten Vermuthungen, diese Verzögerung zu erklären. Bedrohten schon hinreichende russische Streitkräfte unmittelbar Tomsk oder Krasnojarsk? Dann liefe die dritte isolirte Abtheilung aber Gefahr, abgeschnitten zu werden. In diesem Falle mußte es dem Großfürsten leicht werden, Irkutsk wirksam zu vertheidigen, und jeder Gewinn an Zeit galt diesem feindlichen Einfall gegenüber als ein Fortschritt zu seiner Abwehr.
Manchmal gab sich Michael Strogoff wohl solchen Hoffnungen hin, bald aber trat ihm das Trügerische derselben wieder desto deutlicher vor die Seele, und er rechnete dann nur noch auf sich selbst, als läge die Rettung des Großfürsten nur allein in seinen Händen.
Sechzig Werft trennen Kuitunskoë von Kimilteïskoë, einem kleinen Flecken unweit der Dinka, welche der Angara zuströmt. Nicht ohne Besorgniß dachte Michael Strogoff an das Hinderniß, welches dieser nicht so unbedeutende Wasserlauf ihnen in den Weg legte. Fähren oder Boote zu finden, darauf durfte er gar nicht rechnen, und er erinnerte sich recht gut von seinen Reisen in günstigeren Jahreszeiten, daß dieser Fluß nur mit Gefahr zu durchwaten war. Dafür unterbrach nach Ueberschreitung desselben kein weiterer Strom oder Fluß die Straße, welche in einer Länge von noch 230 Werst nach Irkutsk führte.
Um Kimilteïskoë zu erreichen, brauchten sie nicht weniger als drei Tage. Nadia schleppte sich nur noch hin. Trotz ihrer moralischen Energie verließen sie die physischen Kräfte. Michael Strogoff wußte das nur zu gut.
Wäre er nicht blind gewesen, Nadia hätte gewiß zu ihm gesagt:
»Geh’, Michael, laß mich in einer Hütte zurück. Geh nach Irkutsk! Richte Deinen Auftrag aus! Suche meinen Vater auf. Sage ihm, wo ich bin Sag’ ihm, daß ich ihn erwarte, Ihr Beide werdet mich schon wieder zu finden wissen! Reise in Gottes Namen weiter! Ich fürchte mich nicht. Vor den Tartaren werde ich mich zu verbergen wissen. Ich erhalte mich für ihn, für Dich! Geh’ Du, Michael, – ich kann es nicht mehr! …«
Wiederholt war Nadia gezwungen, stehen zu bleiben. Dann hob sie Michael Strogoff auf seine Arme, und da er, wenn er sie trug, an die Ermüdung des jungen Mädchens nicht mehr zu denken brauchte, ging er dann um so schneller.
Endlich am 18. September, Abends gegen zehn Uhr, erreichten Beide Kimilteïskoë. Von dem Gipfel eines Hügels bemerkte Nadia eine minder dunkle Linie am Horizonte. Das war die Dinka. In ihrem Wasser spiegelten sich einige Blitze, denen kein Donner folgte, die aber doch den Umkreis erhellten.
Aus der Erde ragte ein Kopf hervor. (S. 331.)
Nadia führte ihren Begleiter quer durch die verwüstete Ortschaft. Die Asche der Ruinen war kalt. Die letzten Tartaren mochten wohl vor fünf bis sechs Tagen hier durchpassirt sein.
Bei den letzten Häusern sank Nadia auf eine steinerne Bank.
»Machen wir Halt? fragte sie Michael Strogoff.
– Die Nacht ist gekommen, Michael, antwortete Nadia. Willst Du nicht auch einige Stunden ruhen?
– Ich wäre gern noch bis über die Dinka gekommen, antwortete Jener, ich hätte den Fluß gern zwischen
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