Der Courier des Czar
Straße und häuften sich in der Nähe der Dörfer. Nadia kämpfte ihren Widerwillen nieder und musterte alle diese Leichen.
Alles in Allem drohte ihnen Gefahr nicht von vorn, sondern vom Rücken her. Die von Iwan Ogareff geführte Avantgarde der Hauptarmee des Emirs konnte jeden Augenblick erscheinen. Jedenfalls lagen die den Jeniseï hinunter gesendeten Barken bei Krasnojarsk längst bereit, um den Uebergang über den Strom zu bewerkstelligen. Dann war der Weg für die Eindringlinge frei. Zwischen Krasnojarsk und dem Baikalsee konnte sich ihnen kein russisches Corps entgegen werfen. Michael Strogoff fürchtete also stündlich das Auftauchen der tartarischen Plänkler.
Bei jedem Ruhepunkte bestieg Nadia auch stets eine höher gelegene Stelle und blickte aufmerksam über die Gegend nach Westen hin, doch bis jetzt verrieth keine Staubwolke die Ankunft eines Reiterschwarmes.
Dann nahmen Beide ihren Weg wieder auf, und wenn Michael Strogoff bemerkte, daß er die arme Nadia zog, so verzögerte er seine Schritte. Sie sprachen nur wenig, und dann nur von Nikolaus. Das junge Mädchen erinnerte an Alles, was ihnen jener Begleiter während weniger Tage gewesen war.
Michael Strogoff suchte dem jungen Mädchen durch seine Antworten immer einige Hoffnung einzuflößen, obwohl er selbst keine mehr hatte, denn er wußte recht gut, daß der Arme dem Tode gewiß nicht entgehen würde.
Eines Tages wandte sich Michael Strogoff an seine Begleiterin:
»Du sprichst mir niemals von meiner Mutter, Nadia?«
Von seiner Mutter! Nadia hatte das ängstlich vermieden. Warum sollte sie seine Schmerzen erneuern? War die alte Sibirierin nicht todt? Drückte der Sohn damals nicht den letzten Kuß auf die stummen Lippen, als ihre Leiche auf dem Plateau bei Tomsk lag?
»Rede von ihr, Nadia, bat Michael Strogoff, rede nur! Du bereitest mir dadurch ein Vergnügen.«
Dann wagte Nadia, was sie bis jetzt unterlassen hatte Sie erzählte alles, was zwischen Marfa und ihr selbst seit dem zufälligen Zusammentreffen in Omsk geschehen war, als sie sich gegenseitig zum ersten Male sahen. Sie gestand, wie ein unerklärlicher Instinct sie zu der unbekannten, bejahrten Gefangenen hingezogen und wie gern sie für jene gesorgt, aber auch, wie sehr sie selbst dadurch an Muth und Vertrauen gewonnen habe. Zu jener Zeit hielt sie Michael Strogoff ja noch für Nikolaus Korpanoff.
»Der ich immer hätte bleiben sollen«, fiel da der Blinde ein, um dessen Stirn sich düstere Wolken lagerten Nach einer Pause fügte er dann hinzu:.
»Ich habe meinen Eid gebrochen, Nadia. Ich hatte geschworen, meine Mutter nicht zu sehen.
– Du hast das auch nicht gewollt, Michael, suchte ihn Nadia zu beruhigen, der Zufall nur hat Dich ihr zugeführt.
– Ich hatte geschworen, mich auf keinen Fall zu verrathen!
– Michael, Michael! Konntest Du Dich bezwingen, als die Geißel über Marfa Strogoff geschwungen ward? Nein, nein! – Es giebt keinen Eid, der einen Sohn hindern könnte, seiner Mutter zu Hilfe zu eilen.
– Ich habe meinen Eid verletzt, Nadia, wiederholte Michael Strogoff traurig. Gott und der Vater (d.i. der Czar) mögen es mir vergeben.
– Michael, sagte das junge Mädchen, ich habe eine Frage an Dich. Antworte mir nicht, wenn Du glaubst, es nicht zu dürfen. Von Dir beleidigt mich nichts.
– Sprich, Nadia!
– Warum eilst Du, nachdem Dir der Brief des Czaren geraubt wurde, noch immer so dringend nach Irkutsk?«
Michael Strogoff drückte die Hand seiner Führerin wärmer, aber er gab keine weitere Antwort.
»Kanntest Du den Inhalt des Briefes schon vor Deiner Abreise aus Moskau?
– Nein, er war mir unbekannt.
– Soll ich annehmen, Michael, daß nur das Verlangen, mich meinem Vater zuzuführen, Dich jetzt nach Irkutsk treibt?
– Nein, Nadia, ich würde Dich täuschen, wenn ich diesen Glauben in Dir erweckte. Ich gehe nur dahin, wo meine Pflicht mir befiehlt! Wie kann ich Dich nach Irkutsk führen, bist Du es nicht, Nadia, die im Gegentheil mich jetzt leitet? Sehe ich nicht durch Deine Augen, hält mich nicht Deine Hand auf dem Wege? Hast Du mir nicht hundertfach die kleinen Dienste vergolten, die ich Dir vielleicht vorher leisten konnte? Ich weiß nicht, wann das Unglück müde sein wird, uns zu prüfen, aber ich weiß, daß ich an dem Tage, da Du mir danken willst, Dich in die Hände Deines Vaters geführt zu haben, Dir innig danken werde für Deine treue Leitung auf meinem Wege!
– Armer Michael! sagte Nadia tief bewegt. Sprich nicht solche Worte!
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