Der Daleth-Effekt
nicht mehr dieselbe. Er lächelte in der Dunkelheit, ohne zu merken, daß ihm Blut am Kinn hinablief und er sich vier Vorderzähne ausgeschlagen hatte.
Der Wind trieb immer mehr Schnee über das Wasser; nur für kurze Augenblicke gab er den Blick frei, ehe er die Sicht wieder versperrte. Der Mann auf der anderen Seite des Yderhavn-Kanals fluchte ausdauernd in einer gutturalen Sprache. Mehr hatte er in der Eile nicht auf die Beine stellen können – und es genügte einfach nicht …
Er lag auf dem Dach eines Lagerhauses gegenüber dem Langelinie-Kai, vielleicht achthundert Meter entfernt. In diesem Gebiet hielt sich nach Einbruch der Dunkelheit kaum ein Mensch auf, und den wenigen Nachtwächtern und Polizisten, die hier patrouillierten, war er mühelos aus dem Weg gegangen. Er hatte ein ausgezeichnetes 200-mm-Nachtglas, aber auch damit konnte er natürlich nichts sehen, wenn es nichts zu sehen gab. Kurz nach Ankunft der Dienstwagen auf dem Kai hatte es zu schneien begonnen, und die Flocken waren seither immer dichter gefallen.
Die Wagen hatten sein Interesse geweckt, die nächtliche Aktivität höchster Kreise, das geplante Zusammentreffen einiger wichtiger Militärs, die er beobachtete. Er hatte keine Ahnung, was das sollte. Man hatte sich mitten in der Nacht bei Schneetreiben auf den Kai dort drüben begeben, um sich einen verdreckten Eisbrecher anzusehen, der mit Kohle beheizt wurde. Er fluchte erneut und spuckte in die Dunkelheit – er war ein häßlicher Mann, und sein Ärger machte ihn noch häßlicher; ein Mann mit schmalen Lippen, rundem Kopf, Stiernacken und dünnem, grauem Haar, das so kurz geschnitten war, daß sein Kopf wie rasiert wirkte.
Was hatten diese dicken, dummen Dänen vor? Irgend etwas war geschehen; ein Unfall hatte sich ereignet. Es schien Verletzte gegeben zu haben, und das Wasser war aufgewühlt worden. Aber von einer Explosion hatte er nichts gehört. Jetzt herrschte drüben große Aufregung, Krankenwagen und Polizeifahrzeuge rasten von allen Seiten heran. Was auch geschehen war – es war vorüber, und er durfte nicht damit rechnen, heute nacht noch etwas Wichtiges zu Gesicht zu bekommen. Wieder fluchte er und stand auf. Er war völlig durchgefroren.
Irgend etwas war geschehen, kein Zweifel. Und er würde herausbekommen, was es war. Für solche Dinge wurde er bezahlt, und solche Dinge machten ihm Spaß.
5.
»Keine besonders schöne Aussicht«, gab Bob Baxter zu, »aber sie regt mich irgendwie an. Ich bin nie in Gefahr, die Bedeutung meiner Arbeit zu vergessen, wenn ich hier aus dem Fenster sehe.«
Der andere Mann in dem kleinen Raum saß stocksteif auf der Kante seines Stuhls und nickte förmlich. Er war als Horst Schmidt bekannt – ein Name, der für Hoteleintragungen ebenso geeignet war wie John Smith.
»Irgendwie friedlich«, sagte Baxter und zielte mit der Bleistiftspitze auf die weißen Steine und grünen Bäume. »Etwas Friedlicheres als einen Friedhof gibt es wohl nicht. Und wissen Sie, was sich in dem Gebäude mit dem komischen Dach befindet – unmittelbar auf der anderen Seite des Friedhofs?«
»Die Botschaft der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken.« Schmidts Englisch war gut, wenn er auch einen leichten Akzent hatte; er neigte dazu, die R-Laute tief in der Kehle zu rollen.
»Verdammt symbolisch, nicht wahr?« Baxter drehte sich um und ließ den Bleistift auf seinen Tisch fallen. »Die amerikanische Botschaft gegenüber der russischen Botschaft – und dazwischen ein Friedhof. Das stimmt einen nachdenklich. Was haben Sie über den Zwischenfall am Hafen neulich herausgefunden?«
»Das war nicht leicht, Mr. Baxter. Die in Frage kommenden Stellen schweigen sich aus.« Schmidt langte in seine Brusttasche, holte einen zusammengefalteten Bogen hervor, hielt ihn auf Armeslänge von sich und versuchte mit zusammengekniffenen Augen zu lesen. »Das ist die Liste der Leute, die mit Verletzungen ins Krankenhaus eingeliefert wurden. Die Verletzungen dürften alle zur gleichen Zeit …«
»Ich lasse eine Xerox-Kopie machen. Sie können sich die Einzelheiten also sparen. Wenn Sie mir bitte nur einen Überblick geben würden …«
»Natürlich. Ein Admiral, ein General, ein Oberst, ein anderer hoher Offizier, ein hoher Regierungsbeamter – insgesamt fünf Personen. Ich habe guten Grund zu der Annahme, daß eine unbestimmte Anzahl weiterer Personen nach ambulanter Behandlung entlassen wurde – darunter zahlreiche Angehörige der Luftwaffe.«
»Sehr gute
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