Der Dativ Ist dem Genitiv Sein Tod 1
festzustellen, dass den meisten Deutschen das Gespür für
wohlklingende und missklingende Wörter abgeht.
Eines Tages nach der Schule konfrontiert Julian seinen Vater mit der Feststellung, dass man »werfen«
und nicht »schmeißen« sagt und »bekommen« statt
»kriegen«. Ob solch verblüffender Äußerung will sich der Vater glatt auf den Boden schmeißen und kann sich gar nicht mehr einkriegen. Er besinnt sich aber eines Besseren, wirft sich auf den Boden und bekommt sich nicht mehr ein. Später wendet sich Julians Vater an mich mit der Frage, ob »kriegen« und »schmeißen« tatsächlich
»Bäh«-Wörter sind. Da muss ich spontan an meinen Urgroßvater denken, Konsul Albert Schrödter aus Kiel, einen sehr gebildeten und weltgewandten Mann, der stets größten Wert auf gepflegte Umgangsformen und
sprachlichen Ausdruck legte. In seinem Hause war das Wort »schmeißen« tabu, und wer es trotzdem benutzte, konnte eines missbilligenden Blickes und einer anschließenden Belehrung gewiss sein. Tatsächlich galt
»schmeißen« vor einigen Jahrzehnten noch als vulgär.
Das stark gebeugte Verb (schmeißen, schmiss,
geschmissen) bedeutete ursprünglich »beschmieren«,
»beschmutzen«, was später über das im Hausbau
gebräuchliche Anwerfen von Lehm zu einem all-
gemeinen »werfen«, »schleudern« erweitert wurde.
Schließlich erlangte »schmeißen« — in Anlehnung an den geschleuderten Peitschenhieb — auch die Bedeutung von »schlagen«. Davon zeugen heute noch die Wörter
»Schmiss« (Narben von Gesichtswunden, die
Verbindungsstudenten sich beim Fechten beibrachten) und »schmissig«. Daneben entwickelte sich »schmeißen«
auch als schwaches Verb (schmeißen, schmeißte, geschmeißt) in der Bedeutung »Kot auswerfen«. Der Wortstamm findet sich heute noch in den Begriffen Schmeißfliege und Geschmeiß. Seine Nähe zur Sudelei verwehrte »schmeißen« den Aufstieg von der
Umgangssprache in die gehobene Sprache. Daran hat sich bis heute nichts geändert; noch immer klingt die beliebte Frühstücksaufforderung »Schmeiß mal die Butter rüber« nicht nur unverhältnismäßig, sondern —
zumindest für feine Ohren — auch unappetitlich.
Auch die Formulierung »jemanden rausschmeißen«
zeugt nicht eben von sprachlicher Eleganz. Wer die Sprache zu seinem beruflichen Werkzeug zählt (wie etwa Journalisten), der sollte darauf achten, den täglich zu vermeldenden» Rausschmiss« von Trainern, Vorständen und Behördenleitern in einen »Rauswurf« abzuwandeln.
Dasselbe gilt auch für andere umgangssprachliche Ausdrücke. So werden Gewinne nicht »aufgefressen«, sondern »aufgezehrt«, und eine »dahingerotzte
Bemerkung« klingt besser, wenn sie »dahingesagt« ist.
Ein Journalist, mit dem ich mich über die Qualität des Wortes »Rausschmiss« unterhalte, vertritt die Meinung, dass »Rausschmiss« gepfefferter klingt als »Rauswurf«.
Letzteres sei ihm manchmal etwas zu harmlos, sagt er. »Du würdest doch aber auch nicht Ausdrücke wie verarschen und bescheißen schreiben«, wende ich ein.
Nein, erwiderter, das sei ja Vulgärsprache. Aha.
Schmeißen ist es auch, nur weiß das heute anscheinend kaum noch jemand. Aber ist Unkenntnis ein Argument für Unbedenklichkeit?
Das Wort »kriegen« ist ebenfalls umgangssprachlich, auch wenn es auf das standardsprachliche Wort »Krieg«
zurückgeht. Es bedeutete ursprünglich »streben«, »sich bemühen«, »sich anstrengen«, so wie der »Krieg«
zunächst vor allem eine »Anstrengung« bedeutete. Später wurde »kriegen« im Sinne von »erhalten«, »bekommen«
verwendet, was ja auch nahe liegt; denn wer etwas bekommen will, der muss sich in der Regel dafür anstrengen. Auch wenn das Wort im Nieder-deutschen (krigen) und Niederländischen (krijgen) nichts Unschickliches hatte und hat, so galt es im
Hochdeutschen immer als zweite Wahl. Natürlich würde kein noch so sprach-penibler Arzt die Behandlung verweigern, wenn der Patient ihm sagte: »Hilfe, Herr Doktor, ich kriege keine Luft mehr!« Und niemand im Büro würde Anstoß an der Wortwahl nehmen, wenn jemand entnervt ausriefe: »Ich krieg die Krise!« Aber in wohlgesetzter Rede ist »bekommen« vorzuziehen.
»Schröder kriegt Doktorwürde verliehen« dürfte in keiner Zeitungsredaktion als gutes Deutsch durchgehen.
Und »Jubel in Norwegen: Prinzessin Mette-Marit kriegt ein Baby« klingt nicht eben königlich. Besonders hässlich gerät das Verb im Perfekt: »Schau, was ich zum Geburtstag
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