Der Dativ ist dem Genitiv sein Tod 2
Das Fremdwort Sanktion, im 18.
Jahrhundert aus dem französischen Wort sanction entlehnt,
welches wiederum auf das lateinische sanctio zurückgeht, hat
die Bedeutung »Billigung, Bestätigung, Erteilung der
Gesetzeskraft«. Dass darin das Wort sanctum (= heilig)
anklingt, ist kein Zufall: Früher galten Gesetze oft als heilig −
oder sollten zumindest als heilig angesehen werden. Mit einer
Sanktion hat man es also immer dann zu tun, wenn eine
Autorität (König, Papst, Regierung, Parlament) etwas
bestätigt, billigt, für rechtmäßig oder gar zum Gesetz erklärt.
Weil dies natürlich auch Zwangsmaßnahmen betreffen
kann, hat das Wort »Sanktion« noch eine zweite Bedeutung
erlangt, die im scheinbaren Widerspruch zur ersten steht.
Aus der Billigung wurde die Bestrafung. Meistens wird es
dann im Plural gebraucht. Man unterscheidet zwischen
Sanktionen zur Bestrafung eines Staates und allgemeinen
Sanktionen gegen ein bestimmtes Verhalten:
Kriegslüsterne Politiker fordern militärische Sanktionen
gegen Schurkenstaaten; die Uno verhängt wirtschaftliche
Sanktionen über ein Land; ein Unternehmen beschließt eine
Reihe von Sanktionen, um einen Streik zu brechen; überall
auf der Welt müssen Raucher mit immer drastischeren
Sanktionen rechnen.
Das Verb »sanktionieren« wird überwiegend in der ersten
Bedeutung, also als »billigen, gutheißen, zum Gesetz erklä-
ren«, gebraucht. Wenn die USA Sanktionen über Kuba ver-
hängen, heißt das nicht, dass sie Fidel Castros politischen
Kurs sanktionieren − im Gegenteil.
Was vom Apfel übrig blieb
Die Vielseitigkeit unserer Sprache offenbart sich ganz besonders
bei allem, was essbar ist. Und manchmal auch bei dem, was vom Es-
sen übrig bleibt. Für einen abgenagten Apfel zum Beispiel, den man
normalerweise achtlos wegwirft, hat das Deutsche mehr Begriffe,
als es Automodelle auf unseren Straßen oder Zeitschriftentitel am
Kiosk gibt. Lassen Sie sich in ein exotisches Randgebiet der Sprach-
forschung entführen und staunen Sie über die unerhörte Vielzahl
von Wörtern für ein kleines Stückchen Biomüll.
Die deutsche Sprache steckt voller Wunder und Geheimnisse.
Für manche Dinge oder Zustände hat sie kein Wort parat, so
wie für das Gegenteil von »durstig« zum Beispiel. Immer
wieder fragen sich Menschen, ob es denn kein Pendant
zu »satt« gebe. Viel ist darüber bereits geschrieben worden,
mehrere Wettbewerbe wurden ausgerichtet, Dutzende,
wenn nicht gar Hunderte Vorschläge wurden abgewogen −
und wieder verworfen. Ein Wort für das Gegenteil von
»durstig« wurde bis heute nicht gefunden. Für andere Dinge
hat unsere Sprache dann wiederum mehr Wörter parat, als
man sich träumen ließe. Die letzte Obsternte hatte gerade
begonnen, da stellte mir ein Leser die Frage, welche regiona-
len Begriffe für den Rest des Apfels mir bekannt seien. Also
für jenes Gebilde aus Blüte, Stengel (neudeutsch auch: Stän-
gel), Kerngehäuse und restlichem Fruchtfleisch, das vom
Verzehr des Apfels (meistens) übrig bleibt und für gewöhn-
lich im Müll, auf dem Komposthaufen oder irgendwo im
Gebüsch landet.
Als norddeutschem Gewächs war mir selbst bis dato nur
die Bezeichnung »Griebsch« bekannt. Doch schon eine in-
terne Umfrage in der Redaktion von SPIEGEL ONLINE för-
derte mehrere Varianten zutage. Ein Kollege aus Stuttgart
rief mir »Butzen« zu, ein Sportredakteur aus Hessen kannte
das Wort »Krotze«, und einem Mitarbeiter aus dem Bildres-
sort, einem gebürtigen Hamburger, kam spontan der Aus-
druck »Knust« in den Sinn. »Das sagt man doch zum Brot-
kanten«, wandte ich ein. »In Hamburg sagt man das auch
zum Apfel«, beteuerte er. Später wurde mir dies von anderen
Hamburgern bestätigt.
Ich befand, dass die Frage eine tiefergehende Untersu-
chung wert sei, und rief die Leser meiner Kolumne »Zwie-
belfisch« auf, mir per E-Mail ihnen bekannte regionale Be-
griffe für den Rest des Apfels zu schicken. Die Resonanz war
überwältigend. Ein wilder Stier, der mit gesenkten Hörnern
einen prallen Apfelbaum rammt, hätte nicht überraschter
sein können, so prasselten die unterschiedlichsten, kurio-
sesten und noch nie zuvor gehörten Begriffe auf mich ein.
Hunderte von E-Mails gingen in meinem elektronischen
Postfach ein, es dauerte mehrere Tage, sie alle auszuwerten
und auf ihren jeweiligen Kern, genauer gesagt: auf das
jeweilige Kerngehäuse zu prüfen. Dabei war eine klare Ten-
denz
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