Der Dativ ist dem Genitiv sein Tod - Folge 1 (German Edition)
machen, seinen Abschluss machen, Karriere machen; man kann drei Kreuze machen, Handstand oder Männchen machen; man kann die Nacht durchmachen, ein Opfer kaltmachen, Mäuse, Kies und Kohle und sich ins Hemd machen; man kann andere zur Schnecke machen und sich selbst zum Affen; man kann sogar Unsinn machen – aber Sinn?
»Sinn« und »machen« passen einfach nicht zusammen. Das Verb »machen« hat die Bedeutung von fertigen, herstellen, tun, bewirken; es geht zurück auf die indogermanische Wurzel mag-, die für »kneten« steht. Das Erste, was »gemacht« wurde, war demnach Teig. Etwas Abstraktes wie Sinn lässt sich jedoch nicht kneten oder formen. Er ist entweder da oder nicht. Man kann den Sinn suchen, finden, erkennen, verstehen, aber er lässt sich nicht im Hauruck-Verfahren erschaffen.
Die deutsche Sprache bietet viele Möglichkeiten, den vorhandenen oder unvorhandenen Sinn auszudrücken. Neben »Das ist sinnvoll« ist ebenso richtig: »Das ergibt einen Sinn«, »Das hat einen Sinn«, »Ich sehe einen Sinn darin«. Um nur eine Ahnung der vielfältigen Möglichkeiten zu geben, sei hier ein Auszug aus dem monumentalen Lamento-Monolog des sagenumrankten Sinnfried Sinnstifter zitiert, der die Aufforderung, einen sinnvollen Satz ohne »machen« zu formulieren, empört mit folgenden Worten zurückwies: »Warum sollte das sinnvoll sein? Ich sehe keinen Sinn darin! Welcher Sinn sollte sich dahinter verbergen? Das ist vollkommen unsinnig! Ich kann keinen Sinn darin erkennen. Das ist absolut ohne Sinn, es ergibt nicht den geringsten Sinn. Ich frage Sie, wo bleibt da der Sinn? Liegt denn überhaupt ein Sinn darin? Der Sinn des Ganzen ist unergründbar! Mir vermag sich der Sinn nicht zu erschließen, und je länger ich den Sinn zu ergründen, zu erhaschen, zu begreifen suche, desto deutlicher sehe ich, dass es keinen Sinn hat!«
In ein paar Jahren steht »macht Sinn« vermutlich im Duden-Band 9 (»Richtiges und gutes Deutsch«), dann haben es die Freunde falscher Anglizismen mal wieder geschafft. So wie mit »realisieren«, das auf Deutsch lange Zeit nur »verwirklichen« hieß und neuerdings laut Duden auch die im Englischen übliche Bedeutung »begreifen«, »sich einer Sache bewusst werden« haben kann. Dass an der Börse Gewinne realisiert werden, ist lange bekannt, denn die Wirtschaft kennt »realisieren« als Fachterminus für »in Geld verwandeln«; aber neu ist, wenn der Sieger eines Radio-Quiz gefragt wird, ob er seinen Gewinn von 18 000 Euro denn schon realisiert habe. Oder wenn eine Schwimmweltmeisterin nach ihrem dreifachen Triumph in Barcelona im Fernsehen verkündet, sie könne ihre Siege noch gar nicht realisieren, obwohl ihr die Medaillen bereits um den Hals hingen. Und dann dieser tragische Fall aus Vorarlberg, auf www.orf.at vermeldet: Da war von einer geistig verwirrten Frau die Rede, die neben ihrem toten Mann im Bett lag und die »aufgrund ihrer Krankheit nicht in der Lage« war, »den Tod zu realisieren«.
Wohin das noch führen soll? Womöglich zu neudeutschen Drehbuchtexten wie diesem: »Wie bitte, dein Mann betrügt dich mit deiner besten Freundin? Das realisier ich einfach nicht! Das macht doch irgendwie total keinen Sinn!«
Visas – die Mehrzahl gönn ich mir
Sind Antibiotikas schädlich? Lohnen sich Praktikas? Was man nicht selber weiß, das muss man sich erklären. Oder man schlägt’s im Lexika nach. Viele kennen sich im Einzelfall nicht aus, und erst recht nicht mit der Mehrzahl.
Neulich im Café, Mutter und Tochter bringen sich bei Schokosahnetorte mit Schlag (Mutter) und Vollkorn-Möhrenkuchen (Tochter) auf den neuesten Stand der Dinge. Die Mutter löst vier Stück Würfelzucker in ihrem Tee auf und sagt: »Ach, ihr wollt in die Türkei? Na ja, machen ja viele in letzter Zeit. Die Hotels sollen ja auch ganz anständig sein. Aber sag mal, Kleines, die Türkei ist ja nicht EU, braucht ihr denn da keine Visas?«
Da war es wieder, dieses Wort mit der doppelten Pluralendung. Nicht erst seit PISA leidet Deutschland am Visa. Die massive Werbung der gleichnamigen Kreditkarte hat offenbar dafür gesorgt, dass die Einzahl Visum weiträumig in Vergessenheit geraten ist. So steht dem »Veni, vidi, vici!« (Ich kam, sah und siegte) des humanistisch gebildeten Einzelfalls heute das »Visums, Visas, Visi?« der orientierungslosen Mehrheit gegenüber.
Ganz betroffen sind wir auch von all den vielen »Praktikas«, die junge Menschen heute absolvieren müssen, um herauszufinden, was sie
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