Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Dativ ist dem Genitiv sein Tod: Folge 5

Der Dativ ist dem Genitiv sein Tod: Folge 5

Titel: Der Dativ ist dem Genitiv sein Tod: Folge 5 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bastian Sick
Vom Netzwerk:
Spezialität gilt«, wandte Henry ein. »Ich sage auch ›Pipi machen‹«, fuhr Philipp ungerührt fort. Seine Freundin Maren verdrehte die Augen: »Du sagst auch andere infantile Sachen wie ›Happi Happi machen‹ für ›essen‹ und ›Bubu machen‹ für ›schlafen‹.«
    Tatsächlich behauptet sich die Kindersprache in einigen Bereichen des Alltäglichen besonders hartnäckig. Vielleicht, weil ihr etwas Harmloses, Unschuldiges innewohnt. Indem man eine Sache verniedlicht, erscheint sie uns weniger unangenehm, lästig oder peinlich. Das klappt aber eben nur im privaten Bereich. Im Sterne-Restaurant würde man mit der Frage, wo man »mal eben Pipi machen« könne, Heiterkeit oder Befremden hervorrufen. Und meiner Meinung nach befindet sich Philipp im Irrtum mit seiner Annahme, »pinkeln« sei salonfähig. Nun ja, es kommt auf den Salon an. Immerhin ist es weniger derb als »pissen«. Ein solches Wort war uns Kindern verboten. Hingegen durften wir »pieschern« sagen – die norddeutsche Variante desselben derben Wortes, aber eben plattdeutsch und somit harmlos.
    Henry beharrte darauf, dass alle urinhaltigen Wörter, die mit einem »P« beginnen, in zivilisierteren Kreisen inakzeptabel seien. »Wie gut, dass du nicht zu diesen Kreisen gehörst«, stellte ich erleichtert fest und erinnerte ihn daran, dass er sich früher an Metaphern weidete wie »Agent 00 wird zum Einsatz gerufen«.
    Wäre Henry damals in die Werbung gegangen, würde er heute zu jenen gehören, die sich Kampagnen für Präparate zur Regulierung des Harndrangs ausdenken und Sätze erfinden wie: »Weniger müssen müssen!« Ein wirklich griffiger Slogan, den man allerdings auch für ein antiautoritäres Erziehungskonzept halten könnte.
    Nach der zweiten Flasche Wein stand Maren auf und sagte: »Ich muss dann mal für kleine Mädchen.« – »Auch eine gern genommene Umschreibung!«, bemerkte Henry, »die zudem noch den angenehmen Nebeneffekt hat, dass sie einen jünger erscheinen lässt.« Bezeichnenderweise wird diese Formulierung selten von Kindern gebraucht, sondern meistens von Erwachsenen, deren Kindheit bereits mehrere Dekaden zurückliegt. Das »mal für kleine Mädchen« oder »mal für kleine Jungs« (süddeutsch auch »für kleine Buben«) müssen gibt es in den verschiedensten Spielarten: Der eine muss »für kleine Bäckermeister«, ein anderer »für kleine Feuerwehrmänner«, und viele empfehlen sich gern »für kleine Tiger«, in der Siegfried-&-Roy-Variante auch »für kleine Königstiger«. Guido Westerwelle musste auch bestimmt schon mal »für kleine Außenminister«. Ich stelle mir gerade vor, wie es ist, wenn ein EU-Gipfel unterbrochen wird, weil Angela Merkel erklärt, sie müsse mal kurz »für kleine Bundeskanzlerinnen«, und die EU-Dolmetscher in ihren Kabinen das dann simultan in alle EU-Sprachen übersetzen: »Mrs. Merkel said, she just must for little Lady-Chancellors«, »Madame Merkel a dit qu’elle doit brièvement pour petites chancelières«.
    Wie auch immer, eines ist sicher: Auch Angela wird dorthin zu Fuß gehen, wohin vor ihr bereits der Papst und der Kaiser zu Fuß gegangen sind. Auch dies sind immer noch beliebte Umschreibungen für das Aufsuchen einer Toilette.

    In einer Szene des amerikanischen Roadmovies »Transamerica« sagt die weibliche Hauptfigur während einer Rast, sie müsse sich mal »die Nase pudern«. Das brachte mich zum Schmunzeln. Tatsächlich erfreut sich dieser angestaubte Ausdruck noch immer großer Beliebtheit. Zum einen, weil Frauen das Bedürfnis haben, gelegentlich ihr Make-up zu kontrollieren, zum anderen, weil er als blumiger Vorwand geeignet ist, um alle möglichen Absichten zu verschleiern: Wenn eine Frau sagt, sie wolle sich »die Nase pudern«, kann das auch heißen, dass sie einfach mal frische Luft braucht, draußen eine Zigarette rauchen oder ein heimliches Telefongespräch führen will.
    In besagtem Film indes lässt die Situation nur eine Deutung zu, die der Begleiter auch sofort begreift: Ohne mit der Wimper zu zucken, reicht er der Frau eine Rolle Toilettenpapier.
    Die Schambehaftung des Wasserlassens spiegelt sich nicht allein in der deutschen Sprache wider, sondern in so ziemlich jeder anderen auch. Die Engländer zum Beispiel, jahrhundertelang als verklemmt und sittenstreng verschrien (oder gepriesen), tun sich mindestens genauso schwer wie unsereiner. Dabei können sie sich immerhin rühmen, das WC erfunden zu haben: 1775 ließ sich der Brite Alexander Cummings sein

Weitere Kostenlose Bücher