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Der Dativ ist dem Genitiv sein Tod: Folge 5

Der Dativ ist dem Genitiv sein Tod: Folge 5

Titel: Der Dativ ist dem Genitiv sein Tod: Folge 5 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bastian Sick
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der Beute!«
    Im Unterschied zur »Bild«-Zeitung weiß der zitierte Wachmann noch das Perfekt und das Präteritum zu verwenden. Der Bericht springt zwischen zwei unterschiedlichen Zeitebenen hin und her: der Beschreibung des Tathergangs und der späteren Aussage des Wachmannes. Beide Ereignisse werden von der »Bild«-Zeitung in ein und denselben Präsenstopf geschüttet und vermengt. Ungeachtet der starken Strapazierung des Präsens muss man schon dankbar sein, in diesem kurzatmigen Stakkato-Stil überhaupt noch ab und zu ein Prädikat zu finden. Nach der Lektüre der »Bild«-Zeitung habe ich jedes Mal erhöhten Puls und leichte Angstzustände. Die Wucht und Unmittelbarkeit, mit der all die Gewalt und das Böse dieser Welt über mich hereinbrechen, sind nichts für meine schwachen Nerven. So viel Präsens verkrafte ich nicht.
    Präsens kann erregen, erschöpfen, und manchmal kann es einen auch hinters Licht führen. So las ich unlängst im Kulturteil einer Hamburger Zeitung »Thomas Quasthoff singt Jazz in der Laeiszhalle« und freute mich schon; verhieß die Überschrift doch die Aussicht auf einen erlesenen Musikabend. Zwei Zeilen weiter begriff ich, dass es eigentlich hätte heißen müssen »Thomas Quasthoff sang«, denn das Konzert hatte bereits stattgefunden; der Bericht war keine Ankündigung, sondern eine Nachlese. »Musikliebhaber freut sich auf verpasstes Konzert wegen irreführender Tempuswahl« kritzelte ich enttäuscht in mein Notizbuch.
    Wer im Internet nach Angaben zu einem Treffen zwischen Angela Merkel und Barack Obama sucht, findet unter anderem den Hinweis »Merkel trifft Obama beim Nukleargipfel in Washington«. Damit weiß er allerdings nicht, ob dieses Treffen bereits stattgefunden hat oder erst noch stattfinden wird, denn diese Zeile lässt sich in beide Richtungen deuten: als »Merkel traf Obama« oder als »Merkel wird Obama treffen«. Das hier verwendete Präsens kann sowohl für die Vergangenheit stehen als auch auf die Zukunft hinweisen. Nur eine Zeit lässt sich von der hier verwendeten Gegenwartsform mit ziemlicher Sicherheit ausschließen: die Gegenwart.
Weiteres zum Gebrauch der Zeiten:

»Das Ultra-Perfekt« (»Dativ«-Band 1)
»Das Imperfekt der Höflichkeit« (»Dativ«-Band 2)
»Was gewesen war« (in diesem Buch auf S. 208)

Von Läuchen, Milchen und Sänden
    Wie man Fisch, Wein und Brot vermehren kann, steht in der Bibel. Doch wie ist es mit Lauch, Milch und Sand? Dieses Kapitel gibt pluriforme Antworten auf singuläre Fragen und zeigt, wie man es fertigbringt, das Unzählbare zählbar zu machen.
    Am Wochenende war mein Freund Henry bei seinen Eltern auf dem Land und kehrte wie üblich mit einem Kofferraum voller Gemüse zurück, das er bei mir loszuwerden hoffte. »Ich nehme die Hälfte der Kartoffeln, einen Kohlkopf und die Möhren, aber mehr nicht«, stellte ich klar. Damit wollte sich Henry aber nicht zufriedengeben. Er griff zwei Porreestangen aus dem Korb, schwenkte sie wie ein Cheerleader vor seiner Brust und rief: »So nimm denn auch – den leck’ren Lauch!« Ich überlegte kurz und sagte: »Den gebe ich meiner Nachbarin!« – »Mit dem größten Vergnügen«, erwiderte Henry, »Hauptsache, ich bin das Zeug los!« Also packte ich den Porree in eine Tüte und hängte diese, da meine Nachbarin auf mein Klingeln nicht öffnete, an ihre Tür. Anderntags fand ich eine handschriftliche Notiz in meinem Briefkasten: »Vielen Dank für die Läuche!« Als ich Henry den Zettel zeigte, dichtete er spontan: »Was der Feuerwehr die Schläuche, sind deiner Nachbarin die Läuche!« Ich zuckte die Schultern: »Vielleicht wusste sie auch einfach nicht, wie man Porree schreibt!«
    Von Erlebnissen dieser Art weiß fast jeder zu berichten. Denn jeder war schon mal auf der Suche nach der richtigen Mehrzahlform eines Wortes oder ist über eine besonders seltsame Variante gestolpert. Fakt ist: Eine ins sprachliche Unkraut geschossene Pluralbildung wie »Läuche« ist keine singuläre Erscheinung. Der Aufklärungsbedarf in Pluralfragen ist immens. Wie die Umfrage eines Fernsehteams ergab, das im Auftrag des ZDF unterwegs war, wissen viele Deutsche nicht einmal, was das Wort »Plural« überhaupt bedeutet. Kein Wunder also, dass die Mehrzahl uns immer wieder in Verlegenheit bringt.
    Am Abend schrieb ich meiner Nachbarin ein Gedicht:

    In der Schule hat man uns beigebracht, dass es Wörter gibt, die keine Pluralform besitzen, weil sie unzählbar sind, zum Beispiel Honig, Milch und Sand. Das

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