Der Dativ ist dem Genitiv sein Tod: Folge 5
Vergangenheit und der Zukunft gibt. Die heißen Präteritum, Perfekt, Plusquamperfekt, Futur I und Futur II. Jede dieser Zeiten hat ihre eigene Aufgabe. Sie kommen gut miteinander aus, es gibt nichts, was sie zu befürchten hätten – außer der Gegenwart (fachsprachlich: Präsens). Denn so, wie unser Universum sich immer weiter ausdehnt, dehnt sich auch die Gegenwart aus und drängt Zukunft und Vergangenheit unerbittlich an den Rand.
In der Alltagssprache erfüllt das Präsens nicht allein die Aufgabe, das Jetzt zu beschreiben; es dient auch dazu, die nahe Zukunft auszumalen: So sagt man beispielsweise »Das passiert mir nicht noch mal« statt »Das wird mir nicht noch mal passieren«, »Wann kommst du wieder« statt »Wann wirst du wiederkommen« und »Die Schrothmänner gehen nach Kanada« statt »Horst und Rita Schrothmann tragen sich mit der Absicht, nach Kanada auszuwandern«.
Niemand nimmt daran Anstoß, selten kommt es hierbei zu Missverständnissen. Das Präsens ist zugegebenermaßen praktischer – zumal schneller. Stellen Sie sich vor, Sie geraten so richtig in Rage, der Ausruf »Ich platze gleich!« liegt Ihnen bereits auf der Zunge – würden Sie sich im letzten Moment umentscheiden zu einem »Ich werde gleich platzen!«?
Das berühmte »Sie hören von uns«, das vielen Schauspielern nach einem Vorsprechen versprochen wird, verweist auf die Zukunft. Wer nun findet, dass es streng genommen »Sie werden von uns hören« heißen müsse, dem sei entgegnet, dass »Sie hören von uns« eigentlich etwas anderes bedeutet, nämlich: »Sie werden nie wieder von uns hören! Der Nächste, bitte!« Insofern ist das Präsens in »Sie hören von uns« sogar sehr treffend gewählt, denn tatsächlich hört der Angesprochene im Moment des Angesprochenwerdens etwas: nämlich dass er sich keine Hoffnungen auf die Rolle zu machen braucht.
In der Literatur hat das Präsens als Erzähltempus eine lange Tradition. Schon Gaius Julius Cäsar fasste seinen Bericht vom Gallischen Krieg vorzugsweise im Präsens ab, vor allem dann, wenn er große Eile, entschlossenes Handeln und sich überstürzende Ereignisse zum Ausdruck bringen wollte. Das »Praesens historicum« (historisches Präsens) verlieh seinem Erzählstil dramatische Würze; weshalb es auf Deutsch auch »dramatisches Präsens« genannt wird. Cäsars Zeiten sind lange vorbei, doch diese eine Zeit ist geblieben und erfreut sich noch heute großer Beliebtheit.
So wird das dramatische Präsens auch in der Gegenwartsliteratur gern verwendet. (Es wäre ja auch geradezu paradox, wenn Gegenwartsliteratur ohne Gegenwart auskäme.) Besonders begehrt ist das dramatische Präsens bei Journalisten. Sie setzen diese Zeitform als ultimative Waffe im Kampf gegen den Verfall ein. Schließlich weiß ein jeder: Was immer in der Zeitung steht, ist Schnee von gestern – wenn es nicht noch älter ist. Seit jeher kämpft der Zeitungsjournalismus gegen die begrenzte Haltbarkeit des Neuigkeitswertes. Kein leichtes Unterfangen! Ganz zu schweigen von dem Druck, stets und überall präsent zu sein. So injiziert man den Nachrichten Präsens, um sie länger frisch zu halten. Präsens ist das Botox der Journalistensprache.
Schlagzeilen wie »73-Jähriger erschießt seine Frau und anschließend sich selbst« oder »Lebensmüder springt von Aussichtsplattform« oder »Polizei nimmt Verdächtigen fest« begegnen uns fast täglich in der Presse. (Seltener auch mal »73-Jähriger erschießt sich und anschließend seine Frau« oder »Polizei nimmt Selbstmörder fest«.) Durch die Verwendung des Präsens wirken die Meldungen packender, reißerischer – und »zeitnäher«. Seriösere Zeitungen sind bemüht, mit dem Präsens nicht allzu verschwenderisch umzugehen. Bei anderen Zeitungen scheint das Präsens die einzige existierende Zeitform zu sein. In der »Bild«-Zeitung werden ganze Artikel im Präsens verfasst. Ein Beispiel vom 8.3.2010: »Den zweiten Täter im roten Pullover kann Roman H. zu Boden reißen. Er nimmt den maskierten Mann in den Schwitzkasten, drückt ihn zu Boden! Der Gangster lässt seinen Revolver und eine Geldtüte fallen. Der Sicherheitsmann später zu BILD: ›Der hat kein Wort gesagt. Als zivilisierter Mitteleuropäer dreht man solchen Leuten nicht gleich den Hals um – also versuchte ich, ihn zu fixieren.‹ Während der Sicherheitsmann den Gangster festhält, schnappt sich Hotelpage Freddy (19) die Tasche der Gangster. Darin offenbar mehr als 500 000 Euro – der Großteil
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