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Der Dativ ist dem Genitiv sein Tod: Folge 5

Der Dativ ist dem Genitiv sein Tod: Folge 5

Titel: Der Dativ ist dem Genitiv sein Tod: Folge 5 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bastian Sick
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sicherheitshalber nach. »Ja!«, erwiderte sie achselzuckend, »das hatten Sie doch vorgeschlagen?« Da gab es nur zwei Möglichkeiten: Entweder handelte es sich bei der Brille ihres Freundes um eine Detektiv-Sonnenbrille mit Teleskop-Bügeln, die man auf eine Länge von bis zu einem Meter ausziehen kann – oder die beiden kamen von einem fremden Planeten und sprachen eine seltsame Sprache. »Ich bin mir sicher, dass ich mich anders ausgedrückt habe. Ich würde nie von jemandem verlangen, eine Brille auszuziehen !«, stellte ich klar. Da erwiderte sie lachend: »Machen Sie sich nichts draus, wir sind ausm Rheinland!« Das erklärte natürlich alles.
    Anderntags begann ich, der Sache auf den Grund zu gehen und ein paar Recherchen zum Thema An- und Ausziehen anzustellen. »Dabei helfe ich gern!«, bot mein Freund Henry begeistert an und erklärte auch gleich, wie er sich das vorstellte: »Du nimmst dir den neuesten Barbie-Katalog vor und ich mir den ›Playboy‹ …«
    Ich nahm mir stattdessen lieber den Duden-Band 9 über »Richtiges und gutes Deutsch« vor, fand darin aber weder zu »Anziehen« noch zu »Ausziehen« einen Eintrag. Offenbar bereitet das An- und Ausziehen in sprachlicher Hinsicht wenig Probleme. Bemerkenswert ist zunächst, dass man sowohl Bekleidungsstücke als auch sich selbst anziehen kann. Indem man sich eine Hose und ein Hemd anzieht, zieht man sich selbst an. Und genauso kann man sich selbst gleichzeitig mitsamt seiner Kleidung auch wieder ausziehen. So wie in dem Lied von Hildegard Knef, das vom Leben einer Stripperin erzählt: »Ich zieh mich an – und langsam aus«. Hildegard Knef trug übrigens gern große, auffällige Sonnenbrillen. Das ist bekannt. Weniger bekannt ist, ob die Knef die Brillen an- und langsam wieder auszog. Möglich, dass sie bestimmte Brillen geradezu magisch anzog wie ein Magnet, aber als Berlinerin wird sie diese schön brav »uff« ihre »Nese« »jesetzt« haben und nicht etwa »uff« dieselbe »jezogen«.

    Der hochdeutsche Sprachstandard lässt das An- und Ausziehen nur in Hinsicht auf Kleidung zu. Einschließlich der Schuhe, was sogar zum geflügelten Wort wurde: »Diesen Schuh ziehe ich mir nicht an!« So einen Satz wird man freilich niemals in einem Film zu hören bekommen, in dem Sarah Jessica Parker die Hauptrolle spielt. Die zieht sich bekanntlich jeden Schuh an, solange er nur teuer genug ist. Unsereiner zieht Hosen, Hemden und T-Shirts an, gelegentlich auch mal einen Anzug; weshalb selbiger so genannt wird.
    Doch schon beim Schal wird es kompliziert. In der Aufzählung fällt der Schal vielleicht nicht weiter auf: »Er zog sich Mantel, Schal und Handschuhe an.« Doch wenn es um den Schal allein geht, ist es eher üblich, von »umlegen« und »abnehmen« als von »anziehen« und »ausziehen« zu sprechen.
    Bei den sogenannten Accessoires ist mit der Anzieherei im Standarddeutsch nämlich Schluss. Accessoires, auf Deutsch auch »Zubehör« genannt (zumindest in der Generation Playmobil), sind schmückende, zum Teil nützliche, zum Teil gänzlich unpraktische, dafür aber umso teurere Gegenstände wie Gürtel, Tücher, Krawatten, Mützen und Taschen. Diese werden standardsprachlich nicht an- und ausgezogen, sondern – je nach Accessoire – umgeschnallt, umgelegt, angesteckt, umgehängt, umgebunden oder aufgesetzt.
    Doch was wäre die standardsprachliche Regel ohne die regionalsprachliche Ausnahme? In einigen Landstrichen der Republik, vor allem im Westen, zieht man nicht nur Kleidung an, sondern auch Brillen, Mützen und Krawatten.
    Die Saarländer zum Beispiel ziehen Mützen an und Brillen aus, und es hat keinen Sinn, ihnen zu erklären, dass es im Falle der Brille »abnehmen« heißen müsse, weil die Saarländer das Wort »nehmen« nicht kennen. Anmerkung
    Beim An- und Ausziehen macht die Regionalsprache auch vor Uhren und Schmuck nicht halt. Standardsprachlich werden Armbanduhren »um- und abgebunden«, norddeutsch auch gern »um- oder abgemacht« (»Vergiss nicht, vor dem Baden die Uhr abzumachen!«) – in anderen Gegenden aber auch »angezogen«. Ebenso kann man gelegentlich hören, wie jemand darüber klagt, dass er seinen Ehering nicht mehr ausziehen könne. Und was ist mit dem Kopftuch? Kann man das ebenfalls an- und ausziehen? Diese Frage habe ich in der sogenannten Kopftuchdebatte bislang vermisst!
    In einem Internetforum stellte jemand die Frage, ob man unter einer Taucherbrille »auch eine Brille anziehen« könne. Er bekam darauf zahlreiche

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