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Der Derwisch und der Tod

Der Derwisch und der Tod

Titel: Der Derwisch und der Tod Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Meša Selimović
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Sind
sie dann Gewalttäter? Oder sind wir Gewalttäter, und wird das Höllenfeuer uns
brennen? Und ist das, was sie tun, Gewalt oder Abwehr? Die Dinge lenken heißt
herrschen, Herrschaft ist Gewalt, Gewalt ist Unrecht um des Rechts willen. Ein
Zustand ohne Herrschaft ist schlimmer: Unordnung, allgemeines Unrecht und
Gewalt, allgemeine Angst. Jetzt antworte."
    Ich schwieg.
    „Du kannst nicht antworten? Ich
wundere mich, ihr Derwische könnt zwar nichts erklären, aber ihr könnt doch auf
alles antworten."
    „Du bist von vornherein darauf aus,
mir zu widersprechen, was ich auch sagen mag. Schwerlich werden sich zwei
Menschen verständigen, die auf ganz unterschiedliche Art denken."
    „Leicht werden sich zwei Menschen
verständigen, die denken."
    Er fing wieder an zu lachen. Es war
nicht kränkend, das Lachen, es galt ihm selbst ebenso wie mir, mir aber diente
es als Anlaß, das Gespräch abzubrechen, in dem ich mich unsicher fühlte. Es
geschah mir zum erstenmal, daß mich Fragen verwirrten, die mir klar schienen.
Seine Argumente waren willkürlich, oberflächlich, beinahe scherzhaft, dennoch
fiel es mir schwer, zu antworten. Nicht weil ich keine Antworten gewußt hätte,
sondern weil er bewirkt hatte, daß sie nicht genügten. Er hatte kargen Boden
für den Samen zurückgelassen, den ich hätte streuen können. Von vorn herein
riß er alles nieder, was ich mit Worten hätte aufbauen können, er hatte mich
gefangen, stand wartend über der Leere, mit der er mich umgeben hatte,
entwertete mit einem spöttischen Lächeln meine möglichen Meinungen. Er bezwang
mich, indem er mir seine Denkweise aufdrängte und mir auferlegte, alle
Möglichkeiten zu achten und zu berücksichtigen.
    „Du bist ein redlicher Mensch",
sagte er mit scheinbarer Anerkennung. „Redlich und klug. Du willst nicht mit
leeren Worten antworten, und die richtigen hast du nicht. Dabei habe ich dir
die Antworten in den Mund gelegt."
    „Damit du sie gleich entkräften
kannst. Zum Spott."
    „Ich wollte, daß wir uns
unterhalten, andere Absichten hatte ich nicht. Das Unglück ist nur, daß du
nicht nachzudenken wagst. Du hast Angst, weißt nicht, wohin die Gedanken dich
führen würden. Alles in dir ist durcheinandergeraten, du schließt die Augen,
hältst dich an den alten Weg. Hierhergebracht haben sie dich wegen etwas, wovon
ich nichts weiß und was mich nichts angeht, aber meine Erklärungen über
menschliche Schuld willst du nicht annehmen. Du meinst, es sei Scherz.
Vielleicht ist es auch Scherz, aber man könnte aus ihm einen ganz hübschen
philosophischen Gedanken machen, keineswegs schlechter als andere, mindestens
ließe er sich schön anwenden, denn er würde uns mit allem, was geschieht,
versöhnen. Du bist verbittert, weil du meinst, du seist nicht schuldig. Schade.
Wenn sie dich nicht freilassen, würdest du bald sterben, vor Qual, und alles
wäre in Ordnung. Was aber würde geschehen, wenn sie dich freiließen? Es wäre
das merkwürdigste Unglück, von dem ich weiß. Alles da oben gehört dir ebenso
wie ihnen, sie aber haben dich ausgeschlossen. Willst du unter die Hajduken?
Willst du die droben hassen? Willst du sie vergessen? Ich frage, weil ich nicht
weiß, was schwerer ist. Alles ist möglich, aber ich sehe keine Lösung. Gehst
du unter die Hajduken, so wirst du Gewalt tun, warum hättest du denn denen
droben gegrollt? Entschließt du dich zum Haß, so wird dich die Unzufriedenheit
mit dir selbst vergiften, sofern du nichts gegen sie unternimmst – und gegen
dich selbst, denn du bist dasselbe wie sie, und wieder werden sie dich fassen,
und das ist so gut wie Selbstmord. Wenn du vergißt, könntest du einen gewißen
Ausgleich finden, indem du dich für edel hältst, sie aber werden meinen, du
seist ein Feigling und ein Heuchler, und sie werden dir nicht glauben. In jedem
Falle wirst du ausgeschlossen sein, und gerade das kannst du nicht annehmen.
Eine einzige Lösung gebe es, daß nichts geschehe."
    „Das ist ja mein Gedanke!" rief
ich verblüfft aus.
    „Um so schlimmer, denn einzig das
ist unmöglich."
    Ishak! Anders, ganz anders und doch
derselbe wie damals. Alles ist anders und doch dasselbe. Ein Ishak, der nicht
antwortet, sondern fragt, der fragt, um Rätsel aufzugeben, der Rätsel aufgibt,
um sie zu verlachen. Einer, den man nicht fangen kann. Geh, würde er mir wie
damals sagen, wenn es nicht lächerlich wäre, denn ich kann ja nicht fort. Er
kann. Er wird davongehen, wenn es ihm
einfällt, ein Wunder würde geschehen, und

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