Der Derwisch und der Tod
vergiftete diese Möglichkeit:
Sie haben dich vergessen, Finsternis legt sich über dich, die Leute wissen
nicht einmal mehr, daß es dich gibt, sie denken, du seist gestorben oder
davongewandert in die Welt, du seist eben dort, wo du hinwolltest, und du
hättest es gut und schön, vielleicht beneiden sie dich sogar, du aber wartest,
vergebens, Schuld ist nicht an dir, und doch bleibt die Schuld endlos bestehen,
keine Strafe ist verkündet worden, und doch wird sie endlos vollzogen,
schrecklicher, als wenn sie ausgesprochen wäre.
„Wer ist schuld? Die Vergeßlichkeit.
Das ist menschlich, das geschieht eben. Ja, noch mehr, wenn du dir's recht
überlegst, hat dir keiner etwas Böses angetan. Es ist halt dein Schicksal. Oder
du bist selbst schuld, weil du nicht schuldig bist. Denn wärst du schuldig,
hätten sie dich nicht vergessen. Damit erkennen sie sogar an, daß du
unschuldig bist."
Der Mann macht Späße – jetzt erst
begriff ich es! Was ist das für ein Mensch – solche Späße zu machen! Er wird
mich schrecklich quälen, ich wäre doch besser allein geblieben.
„Böse Späße treibst du,
Freund", sagte ich vorwurfsvoll.
„Wenn es böse sind, dann sind's
keine Späße. Späße sind nie böse."
Und da erkannte ich ihn. Es nahm mir
den Atem, ich schrie auf, oder es kam mir vor, als hätte ich aufgeschrien, es
konnte nicht anders sein, ich mußte geschrien haben – hier durfte ich ihn nicht
treffen!
Es war Ishak!
Ishak, mein immer wiederkehrender
Gedanke, mein leichtestes Erinnern, der sehnende Wunsch meines unbewußten und
unverwirklichten Ichs, das ferne Licht meines Dunkels, die verläßliche Stütze,
der gesuchte Schlüssel zum Geheimnis, eine geahnte Möglichkeit jenseits der
bekannten, Beweis für die Möglichkeit des Unmöglichen, ein Traum, nicht zu verwirklichen
und nicht zu verwerfen, Ishak, bestaunt ob der verwegenen Kühnheit, die wir
vergessen haben, weil sie uns unnütz geworden ist.
Sie hatten ihn gefaßt, den Helden
aus den einzigen echten Geschichten, denen der Kinder, den Helden, den die
unschuldig-reine Phantasie schafft und an den sich noch die Schwäche des
Gereiften hält. Sie haben die Menschenträume zerstört. Sie sind stärker als
die Märchen.
Auch er hatte an Märchen geglaubt,
hatte gesagt, sie würden ihn nie fassen.
„Ishak!" rief ich, als wollte
ich einen Verlorenen zurückholen.
„Wen rufst du?" fragte der Mann
verwundert.
„Dich ruf ich. Ishak ruf ich."
„Ich heiße nicht Ishak."
„Ganz gleich. Ich habe dich so
genannt. Wie hast du es geschehen lassen, daß sie dich faßten?"
„Der Mensch ist geschaffen, früher
oder später gefaßt zu werden."
„Damals hast du nicht so
gedacht."
„Damals war ich auch nicht
eingesperrt. Früher und jetzt, das sind zwei verschiedene Menschen."
„Ergibst du dich ihnen, Ishak?"
„Ich ergebe mich nicht. Ich bin
ergeben worden. Es liegt außerhalb meiner. Ich will es nicht, aber es geht vor
sich. Ich habe ihnen geholfen, indem ich existiere. Existierte ich
nicht, könnten sie mir nichts anhaben."
„Ist das der einzige Grund: daß du
existierst?"
„Grund und Bedingung. Es ist immer
Gelegenheit. Für dich und für sie. Selten bleibt sie ungenutzt. Ohne Rücksicht
darauf, ob du hier bist oder droben. Ich weiß nur nicht, wie lang die Schuld
währt. Bleibt sie auch drüben in der anderen Welt?"
„Wenn du nichts Böses getan hast,
bist du nicht schuldig. Gott macht geschehenes Unrecht wieder gut."
„Du antwortest allzu schnell. Denk
gut nach. Kommt die Macht von Gott? Wenn nicht, woher nimmt sie dann das Recht,
über uns zu richten? Kommt sie von ihm, wie kann sie dann irren? Kommt sie
nicht von ihm, werden wir sie stürzen; kommt sie von ihm, werden wir ihr
gehorchen. Kommt sie nicht von Gott, was verpflichtet uns dann, Unrecht zu
dulden? Kommt sie von Gott, ist es dann Unrecht oder ist es Strafe angesichts
höherer Ziele? Kommt sie nicht von ihm, so wird mir und dir und uns allen
Gewalt angetan, dann sind wiederum wir schuldig, weil wir sie ertragen. Jetzt
antworte. Aber antworte nicht nach Derwisch-Art, die Macht sei von Gott, aber
manchmal würde sie von bösen Menschen geübt. Und sag nicht, Gott würde die
Gewalttäter im Höllenfeuer brennen lassen, denn wir werden nicht mehr wissen
als das, was wir jetzt wissen. Der. Koran sagt auch dies: ‚Unterwerft euch
Gott und dem Propheten und denen, die eure Dinge lenken.’ Das ist eine
göttliche Bestimmung, denn für Gott ist das Ziel wichtiger als du und ich.
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