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Der Derwisch und der Tod

Der Derwisch und der Tod

Titel: Der Derwisch und der Tod Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Meša Selimović
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mich zu
lösen.
    Jemand
stand über mir.
    Er half mir
aufzustehen.
    „Du bist
frei, Freunde warten auf dich."
    Ich
erinnerte mich, ein ferner, blutloser Gedanke sagte es mir, daß ich mich freuen
müsse, aber ich versuchte es nicht einmal, ich fühlte gar nicht das
Bedürfnis.
    „Wo ist
Ishak?" fragte ich Džemal. „Er war doch hier."
    „Sorg dich
nicht um andere."
    „Er war
hier, eben noch."
    Auf dem
Korridor wartete ein Unbekannter. Hergebracht hatten mich drei. Jetzt
war ich nicht wichtig.
    „Los", sagte er.
    Wir bewegten uns stumm durch die
Finsternis, ich taumelte gegen die Wände, der Mann stützte mich, wir gingen,
ich war auf der Flucht, lange war ich verschwunden gewesen, nun kehrte ich
zurück, und ich dachte: Wer wartet auf mich? Und es war mir gleich. Ich dachte:
Ist Ishak geflohen? Und es war mir gleich. Und dann schwankten wir aus
dichterem Dunkel in lichteres, mir fiel ein, daß dies wohl die Nacht sei, eine
vergängliche, schön ist alles, was nicht ewig ist, Nacht und Regen, Sommerregen,
ich wollte die Arme ausstrecken, damit er mir den Schmutz der Unterwelt
abwasche, damit er die Gluthitze lösche, doch die Arme hingen mir herab,
kraftlos und unnütz.

Zweiter Teil

10
    Unglücklich wird sein, wer seine Seele beschmutzt.
    Es war ein Kind, das sprach von seiner Angst, vor
langer Zeit. Es glich einem kleinen Lied:
    Auf dem
Dachboden,
    da ist ein
Balken, der schlägt dir auf den Kopf,
    da ist ein Wind, der klappert mit den
Fensterläden,
    da ist eine Maus, die lugt aus der Ecke.
    Sechs Jahre zählte er, mit fröhlichen
blauen Augen schaute er verzückt auf die Soldaten, auch auf mich, den jungen
Derwisch-Soldaten. Wir waren Gefährten und Freunde, ich meine, noch niemanden
so sehr geliebt zu haben; immer sah ich ihn mit Freude und ließ ihn nie spüren,
daß ich der Altere sei.
    Es war Sommer, Regen und Hitze
wechselten miteinander, wir lebten in Zelten, auf einer Ebene voller Mücken und
Froschgequake, eine Wegstunde von der Save, nahe einer ehemaligen Herberge, wo
der Kleine mit der Mutter und der halbblinden Großmutter wohnte.
    Seit dem Frühjahr lagen wir hier
fest, schon den dritten Monat, von Zeit zu Zeit griffen wir den Feind an, der
sich am Flußufer eingenistet hatte. Anfangs hatten wir hohe Verluste, dann
hielten wir uns zurück, wir sahen ein, daß wir mit unseren Kräften gegen ihn nichts
ausrichten konnten, und die Truppen, die uns hätten helfen sollen, kämpften auf
Gott weiß was für Kriegsschauplätzen des weiten Reiches, so blieben wir in der
Ebene stecken, einer dem anderen ein lästiges Hindernis.
    Die Zeit dehnte sich quälend. Die Nächte
waren schwül, die Ebene atmete leise im Mondlicht wie ein Meer, unzählige
Frösche in unsichtbaren Sumpflöchern trennten uns mit ihren durchdringenden
Stimmen von der übrigen Welt, ertränkten uns mit schrecklichem, dröhnendem
Quaken, dem erst die nebelige Morgendämmerung Einhalt gebot, während weiße und
graue Ausdünstungen über uns wogten wie zu Anbeginn der Welt. Am schwersten zu
ertragen war die genaue Regelmäßigkeit, mit der sich dieser Wechsel vollzog,
seine Unausweichlichkeit.
    Gegen Sonnenaufgang wurden die Nebel
rosig, und es begann annehmlicher zu werden – ohne Feuchte und Schwüle, ohne
Mücken, ohne die Qual des nächtlichen Halbwachseins. Wir fielen dann in einen
brunnentiefen Schlaf.
    Wenn es regnete, war es noch
schlimmer, der Gesichtskreis verengte sich, wir hockten gedrängt beieinander
und schwiegen, gemartert von der Kälte, als hätte eben der Winter begonnen,
oder wir erzählten uns etwas, ganz gleich was, oder sangen, reizbar und
gefährlich wie Wölfe. Die Zeltbahnen schlugen durch und besprengten uns mit
grauem Regen, Wasser quoll unter unseren Schlafplätzen hervor, die Erde
verwandelte sich in einen unbegehbaren Sumpf, und wir saßen gefangen in unserer
Not, als wäre es für immer.
    Die Soldaten tranken, würfelten
unter einer aufgespannten Decke, stritten und schlugen sich. Es war ein
Hundeleben, das ich nach außen hin ruhig hinnahm, mit nichts verratend, daß es
mir schwerfiel, unbeweglich, auch wenn der Regen mich durchnäßte, unbeweglich,
auch wenn sich das Zelt in ein Irrenhaus verwandelte, in einen Käfig voll
wilder Tiere; ich zwang mich, alles Häßliche und Schwere wortlos zu ertragen;
ich war jung und meinte, es sei ein Teil des Opfers, dabei wußte ich, es war
häßlich und schwer. Als Bauer und als Geistlicher zuckte ich bei jedem Fluch und
jedem häßlichen Wort, bis ich endlich

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