Der Derwisch und der Tod
begriff, daß die Soldaten sie
gebrauchten, ohne in ihnen etwas Ungehöriges zu sehen. Wenn sie aber mit voller
Absicht fluchten, wenn sie bewußt ein schändliches Wort aussprachen, sich
darauf vorbereiteten und es genossen, wurde es unerträglich. Sie taten es mit
beherrschtem Grimm, mit dreistem Genuß, danach innehaltend und herausfordernd
dem Widerhall dieser perversen Wortpaarung lauschend. Manchmal hätte ich vor
Qual weinen mögen.
Ich hörte auch dieses und jenes vom
Leben und von den Menschen, was ich bis dahin nicht gewußt hatte. Manches nahm
ich mit Wißbegier auf, manches mit Bestürzung, und so erwarb ich Erfahrung,
verlor die Naivität, hörte aber nicht auf, den Zustand zu bedauern.
Ich saß mit den Soldaten zusammen,
bis es mir über wurde. Wegzugehen erlaubte ich mir aber erst dann, nachdem es
mich nicht mehr aufregte, nachdem ich mich abgefunden oder mich in Gedanken
darüber erhoben hatte, indem ich alles als eine Notwendigkeit hinnahm, die sich
Leben nennt und die nicht immer schön ist. Selten unternahm ich den Versuch,
sie zur Vernunft zu bringen. Ein paarmal hatten sie mich grausam ausgelacht
(denn abgesehen von meinem geistlichen Stand war ich dasselbe wie sie, ich
hatte keinen Rang, der mich geschützt hätte), danach stand ich, meinetwegen und
ihretwegen, davon ab, auf ihr Tun Einfluß nehmen zu wollen, ich beschränkte
mich auf die Gebete, die in den Plan der Soldatenpflichten fest eingefügt
waren – wie Marschieren oder Postenstehen. Da kam mir der seltsame,
entmutigende Gedanke, daß ein Mensch, der geistig weiter entwickelt ist als
andere, sich in einer schwierigen Lage be findet, sofern ihn nicht seine
Stellung und die ängstliche Achtung, die sie hervorruft, schützen. Er wird zum
Einzelgänger – seine Maßstäbe sind anders, sie nützen keinem und trennen ihn
von den übrigen.
So blieb ich meistens allein, mit
einem Buch oder mit meinen Gedanken, es wollte mir nicht gelingen, auch nur
einen Menschen herauszufinden, mit dem ich vertrauter hätte werden mögen. Alle
betrachtete ich als ein Ganzes, eine Gesamtheit, die ungewöhnlich roh, stark,
sogar interessant war. Im einzelnen schienen sie mir unbegreiflich
bedeutungslos. Ich verachtete sie nicht, wenn ich an sie als eine Mehrzahl
dachte, ein wenig liebte ich sogar dieses hundertköpfige Geschöpf, dieses rohe
und kraftvolle, die einzelnen Glieder aber konnte ich nicht ertragen. Meine
Liebe oder etwas, was nicht ganz Liebe war, galt allen, nicht einem einzelnen,
und das genügte mir.
Einmal, als ich außerhalb des Lagers
saß, auf einem morschen Baumstamm, in hartem Gras, das mir bis zu den Knien
reichte, allein, betäubt vom Zirpen der Grillen unter der heißen Sonne (immer
zirpte, pfiff, sang etwas auf dieser Ebene), in Gedanken nicht fertig werdend
mit dem, was ich von den Soldaten über die junge Frau in der Herberge gehört
hatte, sah ich den Jungen nicht weit von mir ruhig im Grase stehen, das ihm
fast bis zum Hals reichte. Er sprach mich vertrauensvoll an. Wir waren schon
Bekannte. Lieber wäre es mir gewesen, er hätte mich nicht gefunden. Ich
fürchtete beinahe, er würde mir aus den Augen das ablesen, was ich über seine
Mutter gehört hatte.
Es war nichts Unwahrscheinliches,
was die Soldaten erzählten. Sie war die einzige junge Frau in unserer Nähe. Die
ersten Dörfer konnte man am fernen Rand der Ebene nur ahnen, sie gingen wohl
auch dorthin, besonders nachts, ich wußte es, hauptsächlich der Frauen wegen,
und keiner ist so rücksichtslos wie ein Soldat, der weiß, daß er jeden
Augenblick sterben kann, der aber nicht an den Tod denken will, der an nichts
denken will und der ungerührt eine Wüste zurückläßt. Auch die Frauen sind ihnen
gegenüber sanfter, weil sie das alte Mitleid teilen, das dem Soldaten gilt, und
weil die Scham nicht am Orte bleibt, sondern mitgeht auf seine fernen,
verschlungenen Wege. Wo ein Heer durchzieht, sprießt kein Gras mehr, aber es
sprießen die Kinder. Was die Mutter des Jungen betraf, fiel es mir jedoch
schwer, das gelten zu lassen. Jede Frau, ja – nur nicht eine bestimmte. So sehr
verallgemeinerte ich die Welt, daß ich sie zu verlieren drohte.
Klein, dem Anschein nach schwach,
noch jung, weckte sie nicht sogleich Aufmerksamkeit, ihr gesammelter Blick aber
und die ruhigen Bewegungen und die beherrschte, sichere Haltung bewirkten, daß
man nicht gleichgültig an ihr vorbeiging. Und dann konnte man Augen entdecken,
die nicht verwirrt blickten, einen schönen, etwas
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