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Der Derwisch und der Tod

Der Derwisch und der Tod

Titel: Der Derwisch und der Tod Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Meša Selimović
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noch
davonfliegen.
    „Jetzt kannst du lärmen, soviel du willst!"
sagte der Mann, der mich stillzusein geheißen hatte, damit ich die Taube nicht
verscheuchte.
    „Ich habe es nicht gewußt. Wird sie
wiederkommen?"
    „So dumm wird sie nicht sein. Hat
sich zufällig hierher verirrt."
    „Es tut mir leid. Hast du Tauben gern?"
    „Nein. Aber mit der Zeit liebst du
hier sogar Fledermäuse."
    „Bei mir waren nicht einmal
Fledermäuse, vielleicht wegen der Nässe."
    „Auch hier gibt's keine. Sie können
Menschen nicht leiden.Einmal erwischte ich eine, sie kam zufällig, aus
Versehen herein, ich wollte sie mit der Kordel von meinem Fermen [25] anbinden, aber
dann ekelte es mich. Setz dich, wohin du willst, 's ist alles gleich."
    „Ich weiß."
    „Wie lange bist du schon
eingesperrt?"
    „Lange."
    „Ob sie dich nicht vergessen
haben?"
    „Wie denn: vergessen?"
    „Na so, vergessen. Einer hat mir
erzählt, er war hier, sie hatten ihn irgendwo in der Krajina gefaßt, ihn
tagelang, wochenlang von einem Ort zum andern, von einem Gefängnis zum andern
geschleppt, bis sie ihn schließlich hierherbrachten. Und hier vergaßen sie ihn.
Monate vergingen, er saß hier, trübsinnig, keiner ließ ihn holen, keiner fragte
nach ihm, für die anderen gab es ihn nicht mehr – Schluß. Wenn dir nur das
nicht geschieht!"
    „Meine Freunde haben von sich hören
lassen. Sie haben herausgefunden, wo ich bin."
    „Das ist noch schlimmer. Auch bei
dem Mann, von dem ich spreche, haben es die Verwandten erfahren, sie sind
gekommen, er aber hat ihnen bestellen lassen, sie sollen sich nicht um ihn
kümmern. So war er wenigstens am Leben, aber wenn man wieder an ihn dachte,
konnte es schlimm ausgehen. Und wahrhaftig, eines Nachts holten sie ihn ab. In
die Verbannung wahrscheinlich."
    Seine Stimme klang spöttisch, als
wollte er mir Angst einjagen, doch die Geschichte war nicht unglaubhaft.
    „Warum sprichst du so?" fragte
ich, verwundert von seiner Art und seiner Absicht. Ich hatte geglaubt, hier
seien alle tödlich bekümmert und sich wenigstens in dem Wunsche einig, einander
nicht zu kränken.
    Der Mann lachte. Er lachte
wahrhaftig. Es kam mir so unerwartet, daß ich glaubte, er sei verrückt. Dabei
lachte er ganz gewöhnlich und fröhlich, als wäre er zu Hause. Vielleicht auch
gerade deswegen.
    „Warum ich so spreche? Die ganze
Weisheit liegt hier darin, daß du geduldig sein mußt. Und bereit zu allem. Das
verlangt der Ort, wo wir sind. Und wenn es dir besser ergeht, als du erwartest,
so danke Gott, so bist du der Gewinner."
    „Wie kannst du nur so schwarz
sehen?"
    „Wenn du nicht schwarz denkst, kann
es schwärzer kommen. Nichts hängt von dir ab. Es nützt dir nichts, ob du tapfer
bist oder feige bist, ob du fluchst oder weinst, es nützt dir nichts. Drum sitz
ruhig und wart auf dein Schicksal, schwarz ist es schon dadurch, daß du hier
bist. Ich meine so: Wenn du nicht schuldig bist, ist es ihr Fehler, wenn du schuldig
bist, ist es dein Fehler. Wenn du keine Schuld hast, ist's einfach ein Unglück,
das dich getroffen hat, so als hätte dich ein Strudel hinabgezogen. Trägst du
Schuld, so hat's dich eben erwischt, nichts weiter."
    „Bei dir ist das ganz einfach."
    „So einfach ist es nun nicht. Man
muß sich dran gewöhnen, dann ist es einfach. Siehst du, ich meine, ich bin
nicht schuldig, und sicher meinst du von dir dasselbe. Das stimmt zwar nicht
genau, denn es kann gar nicht sein, daß du nicht wenigstens einmal im Leben
Fehler gemacht hast, groß genug, daß du sie eigentlich ausbaden müßtest. Aber
ganz gleich, damals bist du um die Strafe herumgekommen, und jetzt bist du in
nichts schuldig. Natürlich sagst du dir, man muß dich freilassen. Bloß, wie
sollen sie dich freilassen? Versuch doch mal, so wie sie zu denken. Wenn ich
nicht schuldig bin, haben sie sich geirrt, dann haben sie einen schuldlosen
Menschen eingesperrt. Wenn sie mich freilassen, geben sie ihren Fehler zu, und
das ist weder leicht noch nützlich. Kein vernünftiger Mensch kann von ihnen
verlangen, daß sie gegen sich selbst handeln. Die Forderung wäre unsachlich
und lächerlich. Also muß ich schuldig sein. Wie aber können sie mich
freilassen, wenn ich schuldig bin? Verstehst du? Wir dürfen nicht gar zu ungerecht
sein. Jeder geht von seinem Standpunkt aus, und wir finden es ganz in Ordnung,
wenn wir es tun, bei ihnen wiederum stört es uns. Du wirst zugeben, daß das
nicht folgerichtig ist."
    „Und wenn sie dich vergessen, wer
ist dann schuldig?"
    Mich

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