Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Derwisch und der Tod

Der Derwisch und der Tod

Titel: Der Derwisch und der Tod Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Meša Selimović
Vom Netzwerk:
er würde verschwinden, vergebens
würden sie ihn suchen, keine Mauern würden ihn halten, keine
Wächter würden ihn halten, keiner könnte ihm etwas anhaben. Man kann
ihn nicht fangen, ebensowenig wie seine Gedanken. Er wird gehen, ohne die
Antwort gegeben zu haben, obgleich er sie weiß, er will sie
nur nicht sagen. Er läßt mich zerschmettert zurück, immer, bringt in mir alles,
was ich weiß, durcheinander, und umsonst wird mir später klar, was ich hätte
antworten sollen, umsonst, denn ich habe nicht geantwortet, habe
nicht antworten können, habe in diesen Augenblicken mehr ihm als mir
geglaubt, umsonst auch deswegen, weil ich ohne ihn auch mir selbst nicht
glaube, ich fürchte, er würde jede Ansicht, die ich äußere, widerlegen,
sobald er sie hört, darum schweige ich, auf meiner Ansicht beharren könnte
ich nur, wenn ich sie gegen ihn durchsetzte. Das aber wage ich nicht. Er denkt
anders als ich, sein Denken geht unerwartete Wege, ungebunden ist es,
dreist, achtet nicht, was ich achte.
    Er richtet den Blick frei auf alle
Dinge, ich senke ihn vor manchem. Er zerschlägt, baut nicht auf, sagt, was
nicht ist, sagt nicht, was ist. Das Verneinen aber ist überzeugend, es setzt
sich weder Grenzen noch Ziele, trachtet nach nichts, verteidigt nichts.
Schwerer ist es, zu verteidigen, als anzugreifen, denn alles, was verwirklicht
wird, nutzt sich unaufhörlich ab, unablässig entfernt es sich vom Entwurf.
    Ich sagte,
um mich zu verteidigen:
    „Das Leben strebt immer nach unten.
Man muß die Kräfte anspannen, um dies zu verhindern."
    „Der Entwurf zieht es nach unten,
denn er bringt allmählich den Widerspruch zu sich selbst hervor. Und dann
entsteht ein neuer Entwurf, ein entgegengesetzter, und er ist
gut, solange er nicht anfängt, sich in die Tat umzusetzen. Nicht das ist gut,
was ist, sondern das, was man will. Wenn die Menschen einen guten Gedanken
finden, sollten sie ihn unter Glas aufbewahren, damit er nicht beschmutzt
wird."
    „Dann haben wir also überhaupt keine
Möglichkeit, diese Welt zu ordnen? Und alles ist nur Verirrung und ewiger
Versuch?"
    Er antwortete nicht. Er hatte einen
seltsamen Gedanken ausgesprochen, anfangs schien er mir seltsam, später war es
mir gleich.
    „Auch dies hier ist eine Welt. Wir
sind in der Unterwelt. Sie ordnen hieße bewirken, daß sie schlechter
wird."
    Und da begann der Irrsinn. Es war
mir, als wüßte ich wohl, daß es Irrsinn ist, aber ich konnte mich ihm nicht
entziehen. Eine unwiderstehliche Wonne lag in diesem Nichts, in diesem
Schwimmen, diesem Treiben ohne Widerstand und Ziel. Ein Blatt, getragen von
einem Strom, der keine Rechenschaft gibt. Ein Gedanke, frei von Last und
Krampf. Ein schönes und bizarres Spiel ohne Zweck. Ein Schweben ohne Furcht.
Eine Laune ohne Reue, ein bequemes und unausweichliches Müssen – wie das Atmen,
wie der Blutkreislauf. „Für wen soll sie schlechter werden?" fragte ich
unbekümmert.
    „Für uns.
Für sie. Wir werden uns gegenseitig einsperren. Werden uns daran
gewöhnen. Wir werden uns in Maulwürfe, in Fledermäuse, in Skorpione
verwandeln."
    „Wir wollen
dann gar nicht mehr heraus. Wir werden die Stille und das Dunkel
lieben lernen."
    „Wir wollen
dann nicht mehr heraus. Werden ewig hierbleiben. Wir können
nicht ohne Ewigkeit."
    „Wir werden
einander nicht vergessen."
    „Wir werden
unsere Gegner droben einsperren, werden sie auf die Erde verjagen.
Und vergessen sie dann absichtlich."
    „‚Wenn sie
aus dem Höllenpfuhl gezogen sind, werden sie in den Fluß des Lebens
geworfen.’"
    „Sie werden
unglücklich sein, die droben. Sie werden schreien: ‚Gebt uns ein
wenig Finsternis. Wir waren doch mit euch!’"
    „Und wir
werden ihnen antworten: ‚Suchet euch selbst Finsternis! Schafft sie
euch selbst!’"
    „Wie
unglücklich werden sie sein! Schreien werden sie: ‚Befreit uns! Laßt uns
hinab!’ Und wir werden ihnen antworten: ‚Selbst seid ihr schuld. Ihr habt uns nicht geglaubt.’"
    „Selbst
seid ihr schuld. Bleibt oben."
    „Ich werde
manchmal hinaufgehen auf die Erde."
    „Immer
begehrst du auf."
    „Du wirst
ein Maulwurf-Derwisch sein. Wirst darauf achten, daß wir uns nicht
wieder das Augenlicht beschaffen, daß wir uns nicht von unserm dunklen
Reich entfernen."
    „Hüten
werden wir unsere Welt."
    „Ich will
kein Maulwurf sein."
    „Krallen
werden uns wachsen. Und Pelz. Und Maulwurfsnase."
    „Ich will
kein Maulwurf sein. Geh."
    Ich hockte,
die Stirn an die rauhe, nasse Wand gelehnt, ohne die Kraft,

Weitere Kostenlose Bücher