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Der Derwisch und der Tod

Der Derwisch und der Tod

Titel: Der Derwisch und der Tod Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Meša Selimović
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vergaß ich den Haß. Er kehrte zurück, als
ich zu den anderen trat.
    Sie standen
über einer Grube, die aussah wie die anderen.
    „Ist es
hier?" fragte Hasan. „Bestimmt?"
    „Mir ist es gleich, nehmt mit, wen
ihr wollt. Aber hier ist es."
    „Woher weißt du's?"
    „Ich weiß es. Er ist in ein Grab
gelegt worden, das schon vorher da war."
    In der Tat stießen die Knechte beim
Graben auf zwei Leichen, sie hoben die eine auf die Bahre, bedeckten sie mit
dem Bahrtuch und begannen den Hang hinabzusteigen.
    Wen tragen wir da? fragte ich mich
voller Schrecken. Einen Mörder, einen Henker, ein Opfer? Wessen Gebeine haben
wir aus der Ruhe gerissen? Viele gab es, die sie umgebracht hatten, nicht nur
Harun hatten sie zu einem andern ins Grab gelegt.
    Wir folgten den Knechten, die auf
den Schultern die Bahre trugen, die mit einem
grünen Tuch bedeckten Gebeine irgendeines Menschen.
    Hasan berührte mich am
Ellbogen, als wollte er mich wecken.
    „Beruhige dich."
    „Warum?"
    „Dein Blick
ist so seltsam?"
    „Traurig?"
    „Ich
wollte, er wäre traurig."
    „Vorhin, auf dem Friedhof, habe ich
umsonst darauf gewartet, daß etwas mir ein Zeichen gebe, wenn ich auf Haruns
Grab stieße."
    „Zuviel
verlangst du von dir. Es genügt, daß du trauerst."
    Sein Gedanke blieb mir unklar, aber
ich wagte nicht zu fragen. Ich fürchtete, er würde erraten, was in mir vorging.
Nicht ohne Grund wies er mich zurück auf die Trauer.
    In der Čaršija, in den anderen
Gassen, überall schlossen sich uns Menschen an, ich hörte, daß immer mehr Füße
hinter uns gingen, immer dumpfer wurde der Hall der Schritte, immer dichter
das Menschengeflecht, ich hatte ihrer nicht so viele erwartet, ich hatte dies
meinetwegen, nicht ihretwegen unternommen, und siehe da, das Meine löste sich
von mir und wurde das Ihre. Ich drehte mich nicht um, sie zu sehen, aber
aufgeregt spürte ich, daß mich diese Vielzahl trug wie eine Woge, ich wuchs mit
ihr, wurde wichtiger und stärker, sie war dasselbe wie ich, nur vergrößert. Sie
trauerten, verurteilten, haßten – allein durch ihre Gegenwart, ohne Worte.
    Dieses
Trauergeleit war die Rechtfertigung meines Hasses.
    Hasan
sprach leise etwas zu mir.
    „Was sagst
du?"
    „Du sollst nicht zu den Menschen
sprechen. Daß du überm Grabe keine Rede hältst!"
    Ich verneinte mit einer
Kopfbewegung. Ich würde nicht sprechen. Etwas anderes war es damals, in der
Moschee. Sie waren mir gefolgt, als ich vom Tor des Todes zurückkehrte, und wir
hatten nicht gewußt, weder ich noch sie, was nun geschehen sollte. Jetzt wußten
wir es. Sie erwarteten von mir keine Rede, keine Verurteilung, es war in ihnen
herangereift, und alles wußten sie. Gut war es, daß ich dies da unternommen
hatte, wir würden diesen gewesenen Menschen nicht begraben, um seine Unschuld
zu bekunden, wir würden mehr tun: Wir würden diese Gebeine in die Erde legen
wie ein Samenkorn, das aufgehen und an das Unrecht mahnen soll. Mochte daraus
erwachsen was wollte und was Gott bestimmte.
    So war mein
Haß edler und tiefer geworden.
    Vor der Moschee setzten die Knechte
die Bahre mit dem grünen Bahrtuch auf den Leichenstein. Ich nahm die Waschung
vor, trat an die Bahre und begann, die Gebete zu sprechen. Und dann fragte ich,
aber nicht als Pflicht, wie immer bisher, sondern herausfordernd und
triumphierend:
    „Sagt,
Menschen, wie war dieser Tote?"
    „Gut!"
antworteten hundert Stimmen voll Überzeugung.
    „Vergebt
ihr ihm alles, was er getan hat?"
    „Wir
vergeben."
    „Bürgt ihr
für ihn vor Gott?"
    „Wir
bürgen."
    Niemals wurde ein Zeugnis für einen
toten Menschen vor seinem Weg in die Ewigkeit aufrichtiger und herausfordernder
abgelegt. Ich hätte zehnmal fragen können, sie hätten immer lauter geantwortet.
Vielleicht hätten wir zu schreien begonnen, drohend, wütend, mit Schaum vor dem
Mund.
    Dann trugen sie diesen Toten, der
schon in der Erde gelegen hatte, nahmen einander die Bahre ab, um ihm Ehre zu
erweisen, um eine gute Tat zu vollbringen und um zu trotzen. Wir begruben ihn
an der TekiehMauer, dort, wo sich die Gasse zur Stadt hin öffnet. Damit er
zwischen mir und den Menschen liege, als Schild und Mahnung.
    Ich hatte es nicht vergessen, die
Muslimen wurden einst an einem gemeinsamen Grabplatz bestattet, einander
gleich auch nach dem Tod. Sie begannen sich voneinander zu trennen, als sie im
Leben ungleich wurden. Auch ich hatte den Bruder von den anderen getrennt,
damit er nicht mit ihnen vermischt werde. Gestorben war er, weil er sich

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