Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Derwisch und der Tod

Der Derwisch und der Tod

Titel: Der Derwisch und der Tod Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Meša Selimović
Vom Netzwerk:
ging abermals zu Abdulah
Effendi, dem Scheich der Sinan-Tekieh, und bat ihn, daß er mir helfe, das Grab
meines Bruders zu finden. Ich sei zu ihm gekommen, sagte ich zerknirscht, weil
ich die, in deren Macht es stehe, Gnade zu erweisen oder nicht zu erweisen,
nicht selbst zu bitten wagte; sie würden es ablehnen, und dann wären mir alle
Türen verschlossen; darum sei ich gezwungen, andere vorzuschicken, die meine
Anliegen verträten, und könne noch solange Hoffnung hegen, wie ich mich nach
ihnen umsähe. Zu ihm sei ich als erstem gekommen, ich dürfte doch wohl mit
seinem Wohlwollen rechnen und Schutz in seinem Ansehen finden, denn das meine
sei nicht mehr groß, und Gott selbst wisse, daß es ohne meine Schuld so
gekommen sei. Er würde mich zu großem Dank verpflichten, denn ich wünschte den
Bruder so zu begraben, wie Gott es bestimmt hat, damit seine Seele Ruhe fände.
    Er wies mich nicht ab, aber er
meinte wohl, wegen meines Unglücks sei mein Wissen und sei ich selbst nicht
ganz auf der Höhe. Er sagte:
    „Seine Seele hat Ruhe gefunden. Sie
hat das Menschliche abgetan, ist in ein anderes Leben eingegangen, in dem es
weder Kummer noch Unruhe noch Haß gibt."
    „Aber meine Seele hat das
Menschliche nicht abgetan."
    „Dann tust du es also um deiner
selbst willen?"
    „Auch um meiner selbst willen."
    „Trauerst du, oder hassest du? Hüte
dich vor dem Haß, damit du dich nicht an dir selbst und an den Menschen
versündigst. Hüte dich vor der Trauer, damit du dich nicht vor Gott
versündigst."
    „Ich trauere, soweit es menschlich
ist. Ich hüte mich vor der Sünde, Scheich Abdulah. All meine Dinge ruhen in
Gottes Händen. Und in deinen."
    Ich mußte mir seine Belehrung ruhig
anhören und mit geistiger Unterordnung sein Wohlwollen erwerben. Wenn die
Menschen meinen, sie stünden höher als wir, können sie auch edel sein.
    Ich war nicht so stark, daß ich das
Recht gehabt hätte, ungeduldig zu werden, auch nicht so schwach, daß ich Grund
gehabt hätte, zornig zu sein. Ich bediente mich anderer, indem ich sie sich
stärker fühlen ließ. Ich hatte eine Stütze und einen Wegweiser, weshalb hätte
ich kleinlich sein sollen?
    Er half mir, ich erhielt die
Erlaubnis, die Festung zu betreten und das Grab zu suchen. Hasan ging mit mir.
Wir nahmen Knechte mit, die Schaufeln und eine leere Bahre trugen.
    Auf den Festungsfriedhof führte uns
ein Wächter oder Diener oder Totengräber; man konnte nicht leicht
herausbekommen, was dieser schweigsame Mensch vorstellte, der nicht ans
Sprechen gewöhnt war, nicht daran gewöhnt war, den Menschen in die Augen zu
sehen, ängstlich neugierig, knurrig dienstbereit, als schwankte er
unaufhörlich zwischen dem Wunsch, uns zu helfen, und dem Wunsch, uns fortzujagen.
    „Dort ist es." Er wies mit dem
Kopf auf eine öde ebene Fläche oberhalb der Festung, mit den Geschwüren
frischer Grabhügel und den Wunden aufgerissener Gräber, alles in struppigem
Gras und Brombeerranken untergehend.
    „Weißt du, wo das Grab ist?"
    Er sah uns wortlos von der Seite her
an.
    Das konnte bedeuten: Wie sollt ich's
nicht wissen, ich hab ihn doch begraben!
    Aber genauso: Woher soll ich's
wissen? Sieh doch, wie viele es sind, ohne Zeichen und ohne Namen.
    Er ging zwischen den regellos verstreuten
Gräbern umher, Gräbern, die man in der Eile und achtlos ausgehoben hatte, so
wie man Vorratsgruben gräbt. Manchmal blieb er über einem stehen, sah einen
Augenblick auf die eingesunkene Erde und schüttelte den Kopf.
    „Nikola.
Der Hajduk."
    Oder:
„Bećir. Mašas Enkel."
    Über
manchen schwieg er nur.
    „Wo ist
Harun?"
    „Hier."
    Ich tat es ihm nach, ging zwischen
den zugeworfenen Gruben, damit ich den toten Bruder fände. Vielleicht würde ich
es an der Aufregung, am Schmerz, an irgendeinem Zeichen erspüren, vielleicht
würde es mir das aufwallende Blut oder eine Träne oder ein Zittern oder eine
unbekannte Stimme sagen, wir können doch nicht immer eingesperrt sein in die
Ohnmacht unserer Sinne. Könnte sich nicht irgendwie das Geheimnis, von
gleichem Fleisch und Blut zu sein, kundtun?
    Harun! rief ich unhörbar und wartete
auf die Antwort aus mir selbst. Doch es kam keine Antwort, kein Zeichen,
nichts, keine Aufregung, nicht einmal Schmerz. Ich war wie lebloser Ton, das
Geheimnis blieb taub. Mich erfaßte nur das Gefühl einer bitteren Ode, einer
Ruhe, die nicht die meine ist, und eines fernen Sinnes, der bedeutender ist als
alles, was die Lebenden wissen.
    Da ich
einsam zwischen den Gräbern stand,

Weitere Kostenlose Bücher