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Der Derwisch und der Tod

Der Derwisch und der Tod

Titel: Der Derwisch und der Tod Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Meša Selimović
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widersetzt
hatte; mochte er auch im Tode ein Streiter bleiben.
    Als ich mich wieder allein fand, als
die Menschen auseinandergegangen waren, nachdem jeder eine Handvoll Erde ins
Grab geworfen hatte, kniete ich vor dem frischen Grabhügel nieder, der ewigen
Heimstatt für ich weiß nicht wen, dem Ort des Gedenkens für Harun.
    „Harun!" flüsterte ich in das
Haus von Erde, in den wachenden, mahnenden Hügel. „Harun, Bruder, jetzt sind
wir mehr als Brüder, du hast mich geschaffen als den Neuen, Heutigen, damit ich
ständiges Erinnern sei; ich habe dich geschaffen als den Herausgehobenen, damit
du ein Mal seist. Begegnen wirst du mir am Morgen und am Abend, jeden Tag, denken
werde ich an dich mehr als damals, da du lebtest. Und mögen alle vergessen,
weil menschliches Erinnern kurz währt, ich werde nicht vergessen, weder dich
noch jene andern, ich schwöre es bei jener und bei dieser Welt, Bruder
Harun."
    Auf der Gasse wartete Ali Hodscha
auf mich, er hatte mein Gespräch mit dem Schatten des Toten geachtet. Ich hätte
gern die Begegnung mit ihm vermieden, besonders jetzt, in der Aufregung nach
dem Begräbnis, aber ich konnte es nicht.Zum Glück war er ernsthaft, auch
freundlich, wenngleich wunderlich wie immer. Er drückte mir sein Beileid aus
und wünschte Sabur [27] , mir und allen Menschen, zu dem Verlust, weil er doch
alle getroffen habe, obgleich er auch ein Gewinn sei, denn Tote könnten mehr
nützen als Lebende, sie seien geradeso, wie wir sie brauchten, sie altern
nicht, sie zanken sich nicht, haben keine eigene Meinung, zeigen sich wortlos
bereit, Soldat zu sein, und üben keinen Verrat, bis man sie schließlich unter
eine andere Fahne ruft.
    „Siehst du mich denn?" fragte
ich ihn. „Kennst du mich?"
    „Ich sehe dich und kenne dich. Wer
kennt nicht den Scheich Nurudin!"
    Er verachtet mich nicht, ich bin für ihn
nicht mehr bloß Luft.
    Was erhofft er von mir, wenn er
gelten läßt, daß es mich gibt?
    Hasan und der Goldschmied Sinanudin
gaben Geld für ein Grabmal aus hartem Stein und eine schöne eiserne Umfriedung.
    Als ich am ersten Freitag nach dem
Begräbnis vom Abendgebet zurückkehrte, sah ich im Dunkeln auf Haruns Grab eine
Kerze brennen. Jemand stand daneben.
    Ich trat näher und erkannte Mula
Jusuf, er sprach ein Gebet.
    „Hast du die Kerze entzündet?"
    „Nein. Sie brannte, als ich hierherkam."
    Hierhergesetzt und entzündet hatten
sie die Hände eines Unbekannten, dem Ermordeten zum Gedächtnis und für seinen
Seelenfrieden.
    Von da an brannten am Vorabend eines
jeden Feiertags Kerzen auf dem Grabstein.
    Immer hielt ich im Dunkeln inne und betrachtete
diese kleinen zuckenden Lichter, die ersten Male erregt und gerührt, später
stolz. Das war mein Bruder, da leuchtete seine reine Seele in den Flämmchen, da
führte sein Schatten Unbekannte her, seiner zu gedenken, die zarte Flämmchen
entzündeten.
    Er wurde die Liebe der Stadt, nach
dem Tode. Da er lebte, hatte ihn kaum einer gekannt.
    Mir war er ein blutiges Erinnern. Da
er lebte, war er nur mein Bruder gewesen.

13
    Ein schönes Wort ist wie ein schöner Baum, die Wurzeln
reichen ihm tief in die Erde, die Zweige recken sich zum Himmel.
    Mit der Treue zu meinem toten Bruder gewann ich
von neuem Hasans Freundschaft. Vielleicht lag in seinen Worten und seinen
Handlungen auch ein wenig verborgene Absicht, ein wenig der Wunsch, mich auf
dem Wege, den er ahnte, zurückzuhalten. Oder irrte ich mich, vielleicht sah
meine Empfindlichkeit auch manches, was es gar nicht gab? Mochte es aber sein,
wie es wollte, an seiner Freundschaft konnte ich nicht zweifeln.
    Auch er nicht an meiner. Ich hatte
ihn liebgewonnen, ich merkte es daran, daß ich ihn immer mehr brauchte, daß
ich ihm nichts übelnahm, was er auch sagte oder tat, und daß mir alles wichtig
wurde, was ihn betraf. Die Liebe ist wohl das einzige Ding auf der Welt, das
man nicht zu erklären und für das man keinen Grund zu suchen braucht. Und
dennoch tue ich es, sei es auch nur darum, daß ich noch einmal von dem Mann
sprechen kann, der in mein Leben soviel Freude gebracht hat.
    Ich band mich an ihn (ein gutes
Wort: ich band mich – wie im Ungewitter auf einem Schiff oder auf gefährlichem
Gebirgspfad) deshalb, weil er geschaffen war, anderen ein Freund zu sein, und
weil er gerade mich gewählt hatte, doch unaufhörlich und immer aufs neue
begeisterte es mich, daß gerade er, der nach außen hin so leichtfertige und
spöttische, so ein Freund sein konnte.
    Immer hatte ich gemeint, ein

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