Der Derwisch und der Tod
Augenblick der Ohnmacht und
des Wartens – ich wünschte sogar, er möge andauern – rettete mich Gott vor
gefährlicher Zerstörung. Ich sage „Gott", denn ein Zufall hätte nicht so
genau sein können, so wohlberechnet vorbeugend, gerade in jenem unfaßbaren
winzigen Stück Zeit zu kommen, da die unbekannten Mächte in mir zu wachsen
begannen, die unbekannten, von meinem inneren Licht noch nicht erhellten, aber
in Menge lauernden und halb schon befreiten.Später, als ich mich mit Mula [11] Jusuf unterhielt, freute ich mich, daß sie sich nicht Bahn gebrochen hatten,
doch es tat mir leid, nicht gesehen zu haben, welcher Art sie waren. In meinem
Innern war ich darum verwirrt, vor anderen hatte ich gelernt, das zu verbergen.
Er war leise näher getreten, ich
hatte ihn erst gehört, als der Sand unter seinen behutsam gesetzten Füßen
knirschte und als sein verhaltener Atem mich traf. Ich erkannte ihn sofort,
auch ohne mich umzusehen, denn keiner trat so unhörbar auf, allzu früh hatte er
die Kunst des behutsamen Schrittes erlernt.
„Störe ich dich im Nachdenken?"
„Nein."
Auch seine Stimme war leise,
verschleiert, aber noch ungeschickt, in ihr sangen Vögel. Und die Augen
verrieten ihn – sie waren hell und munter.
Nichts fragte ich ihn – er mußte es
selber sagen. Er hatte gelobt, keine persönlichen Geheimnisse zu haben, außer
denen, die ganz verschlossen bleiben müssen. Die Regel in der Tekieh war
streng, und ich hätte es mir wohl gemerkt, hätte er nicht gesagt, wo er sich
aufgehalten hatte.
„Ich war in der Sinan-Tekieh.
Abdulah Effendi sprach über die Erkenntnis."
„Abdulah Effendi ist ein Mystiker.
Er gehört zum Bairami-Orden."
„Ich weiß."
„Worüber hat er gesprochen?"
„Über die Erkenntnis."
„Das ist alles, was du weißt? Hast
du dir nichts gemerkt?"
„Ich habe mir Verse gemerkt, die er
deutete."
„Verse von wem?"
„Ich weiß nicht."
„Laß hören!"
„‚Das Geheimnis der göttlichen –
Einheit Ahriman kennt das nicht.
Frag Asaf, er kennt es.
Kann der Sperling gleich große
Bissen essen wie der Vogel Anka?
Kann eine einzige Schüssel das Wasser des großen Meeres
aufnehmen?’"
„Das sind Verse von Ibn Arabi. Sie
wollen sagen, die Erkenntnis der göttlichen Weisheit sei nur Auserwählten, nur
wenigen möglich."
„Und was bleibt uns?"
„Das zu erkennen, was zu erkennen
wir imstande sind. Kann der Sperling nicht den gleichen Bissen schlucken wie
der Vogel Anka, so schluckt er, wieviel er kann. Mit einer Schüssel kannst du
nicht ein ganzes Meer ausschöpfen, doch auch das, was du schöpfst, ist
Meer."
Kopfüber, mit Leidenschaft und
Genuß, stürzte ich mich darauf, leichthin Ibn Arabis Mystik anzufechten, dabei
sah ich vielleicht zum ersten Male ein, daß der Himmel und die Geheimnisse des
Alls, daß die Geheimnisse von Tod und Bestehen der am besten geeignete Bezirk
seien, in den man sich aus den irdischen Sorgen flüchten kann. Gäbe es nicht
diesen Bezirk, so müßte man ihn als Zufluchtsort ersinnen.
Der junge Mann vor mir aber war kein
geeigneter Gesprächspartner. Der Mensch redet zwar meistens um seiner selbst
willen, doch er muß einen Widerhall seiner Worte fühlen. Dieser aber stand vor
mir, das Gesicht so hell vom Mondlicht übergossen, daß man jede Linie, jeden
Zug erkennen konnte. Er stand gehorsam, er durfte nicht gehen, solange ich ihn
nicht entließ, doch seine Gedanken weilten schon woanders, weiß Gott wo und wie
fern, die Gedanken konnte ich nicht festhalten, sie ließen seinen Körper
zurück, damit dessen leere Anwesenheit den schuldigen Gehorsam bekunde. Und
Verse und Mystik und Erkenntnis blieben so fern von seiner Aufmerksamkeit und
seinem Begriffsvermögen, daß er gewiß nur mit den Augen hörte, indem er die
Bewegungen meiner Lippen beobachtete. Es war sinnloser, als wenn ich die Worte
in einen leeren Brunnenschacht gerufen hätte, denn von dort hätte wenigstens
das Echo sie zurückgebracht. Er gab sich gar keine Mühe, zu begreifen. Oder
meinem Gedanken zuzustimmen, wenn er ihn auch nicht begriffen hatte. Nicht
lange mochte er in der Sinan-Tekieh Verse gehört haben.
Unerfahren war er, setzte sich dem
Mondlicht aus, verstand es noch nicht, sich in Dunkelheit und Verstellung zu
verbergen, seine Augen standen weit offen, sie sollten zeigen, daß er zuhörte.
Aber der Schimmer von etwas, was er vorher gesehen hatte, zeugte gegen ihn,
sagte aus, daß er mich nicht hörte – so verrieten ihn die Augen. Was lag in
ihnen?
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