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Der Derwisch und der Tod

Der Derwisch und der Tod

Titel: Der Derwisch und der Tod Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Meša Selimović
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nahm
sie kaum zur Kenntnis, obgleich das seltsam anmuten mag, aber die Wahrnehmung
blieb ganz oberflächlich, ungeprüft, die Gedankenverlorenheit erlaubte mir
nicht, Erscheinung und mögliche Ursache zu verbinden. Es kümmerte mich auch
nicht, wer zu so später, vormitternächtlicher Stunde an der Tekieh vorbeigehen
mochte, dem letzten Haus am Ausgang der Stadt. Nichts rührte sich in mir, kein
Vorgefühl, keine Ahnung, die Schritte hatten soviel Bedeutung wie der Flug
eines Nachtfalters, und nichts wies mich darauf, daß sie schicksalhaft in
meinem Leben sein könnten. Wie schade und wie wunderbar, daß der Mensch nicht
einmal die nächste ihm drohende Gefahr spürt. Hätte ich darum gewußt, ich hätte
den schweren Riegel vor das Tor gelegt und wäre ins Haus getreten, mochten sich
fremde Schicksale ohne mein Zutun entscheiden. Aber ich wußte nichts, blickte
weiter in den Fluß, bemühte mich, ihn so zu sehen, wie einen Augenblick vorher:
nur ihn, ohne Anteil von mir. Es wollte mir nicht gelingen, bald mußte es
Mitternacht sein, ein bißchen abergläubisch ging ich dieser Stunde entgegen,
da die Geister von vielerlei Finsternis erwachen, und ich wartete darauf, daß
sich auch mit dieser meiner Stille etwas tue, etwas Gutes oder Böses.
    Die Schritte kamen zurück, leise,
leiser als vorher. Ich konnte die Schritte nicht bestimmen, aber ich war
sicher, es handelte sich um dieselben. Etwas in mir wußte es, das Ohr hatte
etwas Ungewöhnliches, worüber ich nicht weiter nachdachte, wahrgenommen und
gemerkt: Der eine Fuß wurde vorsichtig aufgesetzt, der andere blieb unhörbar,
vielleicht nur insofern bemerkbar, als man sich nicht vorstellen kann, daß
jemand nur mit einem Fuß auftritt, so schaffte ich mir wohl selbst den Anschein
des anderen, des nicht bestehenden Schrittes. Vom Nachtwächter war nichts zu
hören, rührte sich hier vorzeitig ein einbeiniger mitternächtlicher Geist?
    Die Schritte hielten vor dem Tor
inne, der wirkliche, leise und behutsam, und der unhörbare, den ich mir
vorstellte.
    Ich wandte mich um und wartete. Sie
begannen mich anzugehen, dräng ten sich mit Schauern auf. Noch konnte ich zum
Tor treten und den Riegel vorlegen, aber ich tat es nicht. Ich konnte mich an
das wurmstichige Holz der Tür lehnen und horchen, ob da jemand atmete oder
vielleicht fortgeflogen sei oder sich ins Dunkel aufgelöst habe. Ich wartete,
half dem Zufall durch Nichteinmischung.
    Auf der Gasse tönten Schritte, es
waren mehrere, sie rannten, sie hasteten und schnauften. Würde sich der
Einbeinige ihnen anschließen, oder war er verschwunden.
    Das Tor tat sich auf, und jemand
trat ein.
    Er blieb auf der Steinplatte im
Eingang stehen und lehnte sich an die breite Tür, als sei er todmüde oder als
drücke er gegen sie, damit sie nicht geöffnet werden könne. Es war eine
unbewußte, sinnlose Bewegung, sein schwacher, kleiner Körper hätte keinen
zurückgedrängt.
    Zwei Bäume warfen Schatten auf das
Tor, er aber stand zwischen den Schatten im Licht, wie ein Verurteilter,
herausgehoben, ausgesetzt, dabei hätte er sich gewiß gern im dichtesten Dunkel
versteckt. Doch er wagte nicht, sich zu rühren, die Schritte rannten am Tor
vorbei, dröhnten auf dem Pflaster und verstummten an der Wegbiegung zwischen
den steilen Felswänden, dort lag die Albanerwache, bestimmt erkundigten sich
die Verfolger nach dem, der wie gekreuzigt an der Tür stand. Wir wußten es, ich
und er, daß die Verfolger zurückkommen würden.
    Wir blickten einander an, ohne uns
von der Stelle zu rühren, und schwiegen. Über die ganze Breite des Gartens
hinweg sah ich auf der Steinplatte des Türraums einen bloßen Fuß und ein
Gesicht, das weißer war als die Tekiehmauer. In diesem weißen Gesicht, in den
ohnmächtig ausgebreiteten Armen, in dem Schweigen, lag der Schrecken des
Wartens.
    Ich rührte mich nicht, sprach nicht,
um nicht das aufregende Spiel von Verfolgung und Flucht zu stören. Je
gezwungener unsere Lage wurde, desto gespannter wurde das Warten. Ich spürte,
daß ich in etwas Ungewöhnliches einbezogen war, etwas Schweres und Grausames,
ich wußte nicht, wer von ihnen grausam war, der Flüchtling oder die Verfolger,
es war mir im Augenblick auch nicht wichtig, die Hetzjagd roch nach Blut und
Tod, und alles würde sich vor meinen Augen entscheiden. Mir schoß durch den
Kopf, daß sich das Leben selbst hier zu einem blutigen Knoten verflochten
hatte, vielleicht ein wenig zu stark, zu dicht, zu nahe, zu grob ausgedrückt,
doch immer das

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