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Der Derwisch und der Tod

Der Derwisch und der Tod

Titel: Der Derwisch und der Tod Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Meša Selimović
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gedankenlos, anteillos, an kein Gebet mich erinnernd,
das mir in diesem Augenblick hätte helfen können.
    Ich wich zurück von dem Ort, als
flüchtete ich, und blieb am Geländer über dem Fluß stehen.
    Ich hätte glauben können, daß kein
einziger Gedanke in mir wäre, daß meine Sinne gelähmt wären von einem Schlag.
Doch wunderbarerweise war ich mir dessen, was geschah, wohl bewußt, war für
alles um mich herum empfindlicher und aufnahmebereiter als vor wenigen Augenblicken.
Das Ohr nahm die klingenden Laute der Nacht wahr – klar und geläutert, wie von
Glas zurückgeworfen. Jeden hörte ich deutlich für sich, und wiederum flossen
alle zusammen in ein gemeinsames Summen von Wasser, Vögeln, leichtem Wind,
verlorenen fernen Stimmen, von leisem Raunen der Nacht, die sich langsam unter
den Flügelschlägen eines unbekannten, unsichtbaren Vogels rührte. Und das
alles störte mich überhaupt nicht, beunruhigte mich nicht, noch mehr solche
Stimmen hätte ich mir gewünscht, mehr von diesem Rauschen, diesem Summen,
diesem Flattern, mehr von allem außerhalb meiner, vielleicht hörte ich das
auch deshalb so deutlich, damit ich nicht in mich hineinhorchte.
    Wahrscheinlich war es das einzige
Mal in meinem Leben, daß sich Stimmen und Laute, daß sich Licht und Formen als
das zeigten, was sie eigentlich waren, als Klang, als Laut, als Duft, als
Gestalt, als Zeichen und Kunde von den Dingen außerhalb
meiner, denn ich lauschte und blickte als einer, der nichts mit ihnen zu tun
hatte, ohne Kummer und ohne Freude, der sie nicht besser und nicht schlechter
machte, sie lebten für sich, ohne Anteil an mir, nicht verändert durch meine
Empfindungen. Solcherart selbständig, wirklich, nicht umgeschmolzen in meine
Vorstellung von ihnen, hinterließen sie einen etwas gleichgültigen Eindruck,
wie eine fremde, nicht erkannte Sache, wie etwas ganz außerhalb, vergebens, unnütz
Geschehendes, Bestehendes. Ausgeschlossen hatte ich mich, ausgeschlossen war
ich, getrennt von allem um mich herum, und die Welt war beinahe gespenstisch –
lebendig und doch gleichgültig. Und auch ich war einsam, nichts führte in mich
hinein.
    Der Himmel war verödet und leer, war
weder Drohung noch Trost verändert, umgestülpt, zerschlagen sah ich ihn im
Wasser, ein naher Widerschein, kein geheimnisvoller Raum. Kieselsteinchen
blitzten im klaren Wasser auf, als wären es Bäuche von Fischen, die auf dem
flachen Grund schlafen oder sterben, unbeweglich harrend wie meine Gedanken,
die aber würden auftauchen, würden nicht auf dem Grunde meines Inneren bleiben.
Meinetwegen, mochten sie sich recken, wenn sie erwachten, wenn ich sie nur
würde aufnehmen können mit einer Bedeutung, die nicht bloß Ahnung ist.
Einstweilen waren sie ruhig, und in der Stille, von der ich nicht wußte, wie
lang sie dauern würde, begingen vielleicht meine Sinne, befreit und
selbstherrlich, eine stille Feier. Wunderbarerweise waren meine Sinne rein und
unschuldig, wenn ich sie nicht mit dem Druck der Gedanken oder der Wünsche
belastete. Auch schufen sie mir Freiheit, führten mich zurück in den Frieden,
in eine ferne Zeit, die es vielleicht nie gegeben hat, so schön und rein
erschien sie, daß ich an ihr einstiges wirkliches Bestehen nicht glaubte,
obgleich die Erinnerung davon sprach. Am schönsten wäre das Unmögliche, die
Rückkehr in jenen Traum, in die unerfahrene Kindheit, in die beschützte
Seligkeit des warmen und dunklen Urquells. Ich fühlte nicht die Schwermut und
den Wahnsinn solcher Sehnsucht, die kein Wunsch war, weil sie unwirklich bleiben
mußte, nichts als ein Einfall. Sie schwebte in mir, die Sehnsucht, wie
gedämpftes Licht, zurückgewandt ins Unmögliche, ins Nichtbestehen. Auch der
Fluß strömte zurück, die kleinen, vom Silber des Mondlichts gefaßten
Kräuselfalten des Wassers glätteten sich nicht, der Fluß aber strömte wieder zu
seiner Quelle, steinerne Fische mit weißen Bäuchen stiegen auf zu seiner Oberfläche,
der Fluß aber strömte wieder zu seiner Quelle.
    Da kam mir zu Bewußtsein, daß dies
meine Gedanken beleben mochte, indem es begann, das, was ich sah und hörte, in
Schmerz, in Erinnerung, in unerfüllbare Wünsche zu verwandeln. Der ausgedrückte
Schwamm meines Gehirns begann sich vollzusaugen. Die Zeit des Loslösens war
kurz gewesen.

4
    Meint ihr denn, der Mensch könne das erreichen, was er
wünscht?
    Auf der Gasse, hinter der efeuüberwucherten
Tekiehmauer, ließen sich Schritte hören. Ich achtete gar nicht auf sie,

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