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Der Derwisch und der Tod

Der Derwisch und der Tod

Titel: Der Derwisch und der Tod Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Meša Selimović
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und erschlagenen Brüder?
    Warum trennt man uns, da wir doch
ohnehin getrennt sind? Vielleicht darum, daß wir es begreifen? Oder daß wir hassen
lernen, wenn wir nicht zu lieben verstanden?
    „Sie haben deinen Bruder umgebracht.
Willst du, daß wir ihn hier begraben?"
    Jetzt rieb
er ihm die Wange mit der ganzen Handfläche.
    „Heb ihn
auf. Mag er wenigstens ein schönes Totengeleit haben."
    Er hob den Toten auf. Wie ein Kind
trug er ihn, wie ein gefaltetes Tuch, wie eine Weizengarbe, schritt auf dem
Čaršija-Pflaster weit aus, wie er es vom Acker gewöhnt war, und blickte
noch immer mit irrer Hoffnung in das Gesicht des Bruders.
    Ich ging
dem Zug mit dem jungen Toten voran und sprach laut Gebete. Ich hörte, wie die
Leute schrien, viele waren es, ihr Zorn war noch nicht erschlafft.
    Auf der Kreuzung beim Gerichtshaus
trat ich zur Seite, damit alle den Leichnam auf den Armen des Jünglings sähen.
    Sie umgaben
ihn in einem Halbkreis und sahen ihn schweigend an.
    Ich sprach ein Totengebet
und ging auf die Moschee zu.
    Hinter mir, hinter uns erhob sich
Heulen und Brüllen, Fensterscheiben splitterten, Schläge trommelten gegen
Türen.
    Ich wandte
mich nicht um.
    Vor der Moschee traf ich Hafiz
Muhamed, ich bat ihn, sich um den toten und den lebenden Bruder zu kümmern,
selbst aber ging ich die Gasse hinab.
    „Wohin
willst du?"
    Ich winkte
ab. Ich wußte es wirklich nicht.
    „Hasan hat
dich gesucht."
    Es war, als würde es hell um mich,
als ich den Namen hörte. Erschöpft hatte mich die Zeit ohne ihn. Heute, jetzt,
sofort brauchte ich ihn dringender als je. Aber ich würde noch warten.
    Ich bog in eine Gasse ein, die den
Berg hinaufführte, damit ich das Steigen spürte, damit mich die Anstrengung
müde machte. Ich wollte heraus aus dem, was geschah, seit dem Morgen war ich
angespannt, in jedem Augenblick gegenwärtig.
    Mochte die Zeit ohne mich
fortdauern, mochte sie vollbringen, was sie wollte – sie selbst.
    Ich mußte aus der Ćaršija fort,
gerade in diesem Augenblick, mußte zurückweichen wie vor einem Feuer, damit ich
weder Schuldiger noch Zeuge würde.
    Ich
versuchte, mich herauszulösen.
    Es war Herbst, Spätherbst, die
Pflaumenbäume standen entlaubt, düster, die Gipfel der felsigen Berge lagen im
Nebel. In den Einschnitten zwischen den Vorstadthäusern säuselte der Wind.
    Bald wird
es Schnee geben, sprach ich zu mir.
    Und es
berührte mich nicht.
    Ich
versuchte zu schlendern wie ein müßiger Spaziergänger.
    Seit langem
bin ich nicht hier gewesen, sprach ich.
    Und es war
mir gleich.
    Ich sah: Die Kinder spielten Kegeln.
Seltsam, sprach ich, die Kinder spielen Kegeln.
    Und siehe,
das berührte mich.
    Die Kinder spielten, und drunten, in
der Čaršija, tobten übel ihre Väter.
    Ich sah: Die Stadt liegt ruhig und
gelassen im Tal. Die Menschen gehen durch die Gassen, klein, ohne Hast,
harmlos. Sie gleichen diesen Kindern, so aus der Ferne, von der Höhe. Aber sie
sind keine Kinder. Nie hatte ich sie mit so vom Wahnsinn verzerrten Gesichtern
und mit so harten Augen gesehen, ich hatte sie kaum wiedererkannt wegen der
blutunterlaufenen Augen und der gefletschten Zähne – Gesichter wie die Fratzen
der Maskenträger zu Weihnachten. Dies war ihr schrecklicher Feiertag.
    Ich will nicht an sie denken, will
an nichts denken, die Zeit fließt, die Zeit vollbringt alles ohne mich. Ich
kann sie weder anhalten noch antreiben.
    Die Zeit
tropft wie dieser Regen, Tropfen auf Tropfen.
    Ich suchte Schutz unter dem Vordach
der schäbigen Vorstadtmoschee, an der Wand.
    Auch die
Kinder liefen auseinander.
    Ein alter,
weißbärtiger Hodscha, gebeugt, mit zitternder Hand auf den Stock sich stützend,
beinahe unwirklich in dieser Stille, kam langsam auf die Moschee zu, allein,
ohne einen einzigen Gläubigen. Sie waren drunten, in der Stadt, aber ihn
kümmerte das nicht. Sein Greisentum sah wichtigere Dinge. Vor der Moschee rief
er zum Gebet – umsonst, ein vergeblicher, kaum hörbarer Ruf an jemanden, der
nicht da war.
    Das hieß: Es ist Mittag.
    Seit dem frühen Morgen war ich auf
den Beinen. Ich fühlte mich erschöpft, wie bedrückt von der durchmessenen
Zeit.
    Mit dem Rücken an die Moscheemauer
gelehnt, blickte ich auf den nahen, immer dichter werdenden Regenvorhang, der
mich von der Welt trennte, und horchte auf das schwache Gebetsmurmeln des
Hodschas. Eine Stimme wie aus dem Jenseits, hoffnungslos traurig, ganz allein,
und schlimmer war es, daß ich sie hörte, denn er sprach auch von meiner Einsamkeit.
Ich konnte

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