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Der Derwisch und der Tod

Der Derwisch und der Tod

Titel: Der Derwisch und der Tod Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Meša Selimović
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Qualen aller und doch meine
Qualen. Ich brüllte: Aaah! Und dachte: Rache! Und dachte: Blut! Und dachte:
Schluß! Schluß womit? Oh, mit allem, was nichts taugt, was nicht für die Menschen
ist. Das wußte ich, auch ohne nachzudenken. Ein heller Himmel tat sich vor mir
auf.
    Und dann löste ich mich wieder, riß
mich los von der eigenen Wurzel, nahm Ellbogen und Schweiß wahr und war wütend,
weil sie brüllten und weil ich nicht herauskonnte. Laßt mich heraus! schrie
ich, sie hassend, eingeschlossen und wie gefesselt, diesen Menschen vollkommen
fremd.
    Da hörte ich, was sie schrien,
wogegen sie Klage erhoben, womit sie drohten. Keiner erwähnte Hadschi
Sinanudin, keiner erinnerte sich seiner, nicht einmal zufällig. Sie nannten nur
das, was sie selbst betraf, was sie selbst bedrückte. Und gar manches bedrückte
sie: Mangel, Teuerung, Angst, großes und kleines Unrecht, nicht eingehaltene
Versprechungen, leere Jahre, enttäuschte Wünsche, zuviel Nacht, zu frühes
Altern, zuwenig Liebe, großer Haß, Unsicherheit,
Erniedrigung, das ganze Elend, das sich Leben nennt.
    Viel sammelte sich an, genug von
diesen Fetzen, und jetzt schrien sie ihre Unzufriedenheit aus, sie gleichsam
feilhaltend, wie auf dem Markt, verbittert auf diesen ihren Reichtum zeigend;
sie verschenkten die Fetzen, jeder konnte sie nehmen, oder sie boten sie zum
Tausch für Haß oder Blut. Wenn sie Atem schöpften, zwischen zwei Aufschreien,
wie auf dem Schlachtfeld zwischen zwei Schüssen, erzählten sie keuchend, mit wenig
Worten, gestern abend sei ein Posten auf dem Turm getötet worden, ohne Gewehr
und ohne Messer, und er sei auf den Beinen geblieben als Toter; in der
Karanfil-Vorstadt sei ein Kind mit einem einzigen Auge auf der Stirn geboren
worden. Sie wollten, daß etwas Schicksalhaftes über ihrem großen Zorn stehe.
    Es wurde unerträglich. Immer heißer,
immer dichter, immer wahnsinniger; die Menge zerrte mich fort, die Menge
wirbelte mich herum, als wäre sie Wasser und ich ein Holzspan, ein Splitter,
sie riß mich in einen Strudel, ich stemmte mich mit dem Ellbogen gegen jemandes
Rippen, ich schrie, und es schrien die andern, ich trat auf jemanden, ein
Sturzbach toste, ich taumelte, auch mich würden sie niedertreten, ich packte
jemanden am Hals wie ein Ertrinkender, jetzt drängte das Wasser nach der
anderen Seite, ertrinken würden wir, es toste durch eine andere Gasse, der Damm
gab nach, ich atmete freier, ich rannte hinter den anderen her, versuchte sie
aufzuhalten, sie zu beschwichtigen, Angst hatte mich gepackt, da sie doch nicht
mehr wußten, wohin sie stürmten und was sie wollten, sie waren wie eine
Steinlawine, wie ein unbändiger Sturzbach.
    Vor dem
Muselimsamt krachten Schüsse.
    „Was ist
das?"
    „Die
Sejmenen schießen."
    Keiner
blieb stehen.
    Als ich sie keuchend erreicht hatte,
sah ich auf dem Pflaster einen Jüngling liegen, in einem blutigen Leinenhemd.
Um ihn herum standen ein paar Leute im Kreise, und einer, dessen Gesicht ich
nicht sah, kniete neben dem Niedergeschossenen und versuchte, ihm den Kopf zu
heben.
    Die Menge drang in das Gebäude ein,
man hörte, wie sie wütete und vernichtete.
    Der Muselim war nicht da, auch keine
Sejmenen – sie waren geflohen.
    Ich trat zu dem Mann, der, über den
Jüngling im blutigen Hemd gebeugt, auf dem Pflaster hockte. Beide trugen
Bauernkleider, und es tat mir leid, daß es nicht anders war.
    „Ist er
tot?"
    Er hielt ihm den Kopf wie einem
Kind, auf der linken Hand, und voller Angst blickte er in das kalkweiße
Gesicht, darauf wartend, daß die Röte zurückkehre, daß die Lippen sich rührten,
daß alles wieder werde, wie es eben noch war.
    Jung waren
sie beide.
    „Ist das
dein Bruder?"
    „Wir sind zum Markt gekommen",
sprach er verwirrt, mit unruhigen Augen uns gleichsam heranrufend, er lebte
noch ganz in dem, was vorher gewesen war, wagte nicht, dem Jetzigen sich zu
nähern. „Wollten Salz kaufen."
    „Leg ihn
nieder."
    „Und Nägel.
Wir baun ein Haus."
    „Leg ihn
nieder, er ist tot."
    „Ich sag ihm: Wir sind umsonst
gekommen, 's ist alles geschlossen. Und er meint ..."
    Mit den dicken Fingern des
Feldarbeiters berührte er zärtlich das Gesicht des Toten, und mit leiser,
lockender Stimme sprach er zu ihm: „Ševkija! Ševkija!"
    Der Vater wird böse sein, weil ihr
so lange ausgeblieben seid, der Vater wird dich schelten, weil du nicht mit ihm
nach Hause kommst. Steh auf, Ševkija, wache auf.
    Ševkija, wo
bist du?
    Wo bist du,
Harun?
    Wo seid
ihr, alle verlorenen

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