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Der Derwisch und der Tod

Der Derwisch und der Tod

Titel: Der Derwisch und der Tod Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Meša Selimović
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fröhlichsten Nachrichten, die er je zu hören bekam.
    „Warum soll
Alijaga schwerkrank sein? Gestern war er wohlauf."
    „Hadschi Sinanudins
Verhaftung macht ihm sehr zu schaffen."
    „Sie macht
uns allen zu schaffen. Wir fürchten für ihn."
    „Warum? Man wird ihn freilassen. Es
haben sich schon Leute gefunden, die Geld lieben. Stell dir vor, solche gibt
es!"
    Für ihn gab
es an diesem Morgen nichts Schweres. Er lachte:
    „Sein Leben lang hat er für
Gefangene gesorgt, bis er sich selbst in einen Gefangenen verwandelt hat.
Wahrhaftig seltsam: sich in seine Liebe verwandeln."
    „Wir sind
seinetwegen sehr bekümmert."
    Das war ein Vorwurf. Ich wollte ihn
von seinen wunderlichen Gedanken abbringen. Doch er ließ sich nicht beirren.
    „Auch ich bin seinetwegen bekümmert.
Und ich denke daran, wie er sein Leben lang nach Wohltaten für andere
getrachtet hat, und jetzt trachten die anderen nach Wohltaten für ihn.
Vielleicht geschieht es ganz recht."
    Ich wußte, er liebte nicht das
Empfindsame, dies aber klang allzu hart. Mag sein, ich verlangte zuviel von
ihm, heute konnte er nur an sein Glück denken.
    „Wie war es
in Dubrovnik?"
    „Schön.
Dort ist noch Sommer."
    Erstaunlich,
daß es nicht Frühling war.
    Das Hoftor
wurde geöffnet, und Hasan trat ans Fenster.
    Sein Knecht Fazlija, der von der
Gasse hereingetreten war, bedeutete ihm, er möge herunterkommen.
    „Kannst du
bei meinem Vater bleiben?" fragte er mich.
    „Ich habe
nicht viel Zeit."
    „Bleib
wenigstens ein bißchen. Ich komme gleich zurück."
    Alijaga war
derselbe wie gestern abend, beinahe noch lebhafter. „Wo ist Hasan
hingegangen?" fragte er mich.
    „Ich weiß nicht. Er sagte, er sei
gleich zurück."
    Er wollte wissen, was in der Stadt
vor sich gehe, er wunderte sich, daß die Čaršija-Läden geschlossen seien,
bat mich, Hasan zu überreden, daß er zu Hause bleibe, seinetwegen – bei einem
kranken Menschen könne man nicht wissen, was geschieht.
    „Warum hast du Hasan gesagt, es gehe
dir schlechter?"
    „Das stimmt ja. Es geht mir
schlechter."
    „Seit wann? Gestern fühltest du dich
wie ein Vogel. Ich wollte es gerade Hasan sagen, aber ich kam nicht dazu."
    „Habt ihr denn nichts Klügeres zu
besprechen? Es ging mir besser, jetzt geht mir's schlechter, und ich möchte,
daß er bei mir ist, was soll daran sonderbar sein?"
    „Nichts. In Wirklichkeit willst du
Hasan an deinem Bett festhalten, bis draußen alles vorbei ist. Stimmt das
nicht?"
    „Für ihn ist es besser. Du weißt,
wie unüberlegt er handelt. Er wird tun, was du nie erwartet hättest. Sieh mal
nach, ob er zurück ist."
    Da wurde mir alles klar: sein
seltsames Benehmen, das Jammern vor der Tochter, sein Flehen, der Kadi möge den
Gefangenen freilassen, die Verschlechterung seines Zustands heute morgen – all
das geschah Hasans wegen, damit er ihn aus der Gefahr heraushalte, ihn daran
hindere, etwas Unbedachtes zu tun. Darum wollte er den Sohn mit seiner Krankheit
festhalten, darum hatte er das seltsame Spiel gespielt, das ich nicht begriff.
Er wollte Hadschi Sinanudin so schnell wie möglich retten; damit das nicht
Hasan tue. Die Liebe bescherte ihm Angst, Umsicht, Phantasie.
    Ich beruhigte ihn:
    „Um Hasan mach dir keine Sorgen. Er
wird nichts Unbedachtes tun. Er denkt nur an die Dubrovnikerin. Lerchen singen
in seinem Herzen. Ich glaube sogar, ich höre sie zwitschern."
    „Meinst du, ich hör sie nicht? Das
fürchte ich ja gerade, mein Freund."
    „Was fürchtest du?"
    „Das Zwitschern. Deswegen wird er
Dummheiten machen. Wenn es so steht, ist jeder gut und bedauert andere."
    „Bedauert andere, aber tut nichts.
Die Liebe ist selbstsüchtig."
    „Derwisch, was weißt du von der
Liebe! Mich hab ich vorgeschoben, seinetwegen. Ist das Selbstsucht?"
    Gern hätte ich den Alten gefragt –
und einmal werde ich ihn fragen –, was er alles für seinen Sohn zu tun und
seinetwegen zu verraten bereit wäre und wozu seine Liebe sich verzerren würde,
wenn sein Sohn zu leiden hätte. Es wäre der schlimmste Haß, den ich mir denken
könnte.
    Für ihn gab es im Leben nur diese
Liebe, nichts weiter. Sogar jetzt, da sein Leben zu Ende ging, da er dem Tod
entgegensah, bewahrte er sie. Und vielleicht bewahrte sie ihn, hielt sie ihn am
Leben. Vielleicht ist das eine geheimnisvolle und verwickelte List des Alters,
daß sich die Furcht vor dem Tod in Liebe verwandelt, damit die letzten Blüten
im gealterten Herzen aufblühen. Das Herz des
Sohnes war ein Strauch, den man nicht zu düngen

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