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Der Derwisch und der Tod

Der Derwisch und der Tod

Titel: Der Derwisch und der Tod Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Meša Selimović
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umsonst
den Samen gelegt.
    Verschwunden waren die Scham, das
Unbehagen, die Reue. Nichts gab es, weswegen ich mich hätte schämen oder was
ich hätte bereuen sollen, ich konnte stolz sein, konnte mich freuen, daß ich
nicht auf der Seite des Bösen stand. Gott hatte das Urteil gesprochen, das Volk
hatte es vollstreckt – mein Haß war nicht mehr nur der meine. Ich stand nicht
allein, ich zweifelte nicht, war zuversichtlich wie jeder gute Gläubige, der
weiß, daß er auf Gottes Seite steht.
    Ich eilte hinunter in die Stadt, nur
wenige Leute begegneten mir – seltsam verwirrt, wie zufällig übriggeblieben
nach dem tosenden Wirrwarr, der diese Gassen entzündet hatte.
    In der Čaršija traf ich keinen
Menschen. Auch nicht auf dem Platz vorm Gerichtshaus. Die Tür des
Gerichtshauses war aus den Angeln gerissen, die Fenster waren zerschlagen, auf
dem Boden längs der Wände lagen Papiere verstreut.
    Ali Hodscha hockte zwischen ihnen
und las sie auf: Protokolle, Aufzeichnungen, Beschlüsse, zahllose Notizen, die
sich als Zeugnisse von Sünde und Grausamkeit häuften. Die Menschen schreiben
alles auf, was sie tun. Oder glauben sie nicht, daß sie grausam sind?
    Ich bückte mich und wühlte in den
Papieren. Hier war auch die Untat verzeichnet, die mich am meisten anging.
    „Was suchst du?"
    „Ich will sehen, was sie über meinen
Bruder geschrieben haben."
    „Warum? Damit du eine Rechtfertigung
für den Haß hättest. All das werde ich verbrennen. Ihr seid Wölfe, ihr würdet
in dem Mist hier wühlen, um Grund zu neuen Übeltaten zu finden."
    „Wenn du verletzen willst – das ist
leicht. Man braucht nur rücksichtslos zu sein."
    „Ich will ja nicht verletzen. Ich
sage nur Unangenehmes. Weil mir davon übel wird."
    „Wovon?"
    „Erbarm dich, geh weiter. Von den
Menschen wird mir übel. Laß mich in Ruhe."
    Ich ließ ihn in Ruhe, es war das
klügste. Ihn schützte der Wahnsinn, darum war er stärker als wir alle.
    Ich trat ins Gerichtshaus. Kein
Mensch war zu sehen. So wie damals, als ich meines Bruders wegen gekommen war.
Auch die lastende Stille, die in den Ohren zu klingen beginnt wie ein leiser
Flötenton, war dieselbe. Und die Unruhe wegen der unsichtbaren, in den Winkeln
verborgenen menschlichen Schatten war dieselbe. Nur die Stickluft war verschwunden,
durch die zerschlagenen Fenster und die ausgerissene Tür blies ungehindert der
Wind.
    Im Zimmer des Kadis hörte ich
gedämpfte Stimmen, jemand war bei ihm.
    Ich trat in den verödeten
Gerichtssaal und blieb in dem leeren Rahmen der Tür betroffen stehen: Der Kadi
lag auf dem Fußboden – tot.
    Keiner sagte es mir, aber ich wußte,
er war tot. Im Grunde hatte ich es schon gewußt, ehe ich hierherkam.
Ich hatte es gewußt, während ich unter dem Dach der alten Vorstadtmoschee
wartete. Gerade deswegen war ich ja weggegangen, zum Ende der Stadt: damit es
ohne mich geschehe.
    Ein paar Männer standen mitten im
Zimmer. Sie blickten mitleidig auf den Toten. Ich wußte nicht, ob auch ich zum
Kreis der Bedauernden gehörte.
    Ich trat ins Zimmer und blieb über
dem Toten stehen. Ich bückte mich und schob den Umhang beiseite, mit dem sie
ihm den Kopf bedeckt hatten.
    Sein Gesicht sah gelb aus, wie
immer, nur die Stirn war blau und blutig. Die Lider waren seltsamerweise
gesenkt; nichts, gar nichts verrieten seine Züge,
er blieb verschlossen vor jedermann, wie im Leben. Armseliger, dachte ich,
weder Haß noch Triumph fühlend, du hast mir viel Böses angetan. Möge Gott dir
verzeihen, wenn er will.
    Der Tod hatte ihn von mir abgerückt,
selbst das böse Erinnern hielt ihn nicht mehr bei mir; doch das war alles, was
ich denken konnte. Kein Bedauern, kein Gedenken, kein Verzeihen. Es gab ihn
nicht mehr, das war alles.
    Ich wollte ihn nicht, wie es die
Sitte gebot, zum Abschied küssen. Es wäre überflüssige Heuchelei gewesen –
diese Menschen wußten, was er mir angetan hatte.
    Ich sprach
ein Totengebet – soviel vermochte ich noch.
    Da hörte ich Schritte und wandte
mich um. Die Frau des Kadis trat zu dem Toten.
    Ich trat beiseite, um ihr Platz zu machen,
ohne Bosheit, ohne Neugier sogar. Ich hatte ihn gehaßt, als er lebte, und es
machte mich erstaunen, daß überhaupt jemand um ihn
trauerte. Doch es war irgendwie quälend, daß ihn auch die eigene Frau betrauern
würde, heuchelnd, der Ordnung halber, um den schönen Sitten gerecht zu werden.
    Sie entschleierte das Gesicht, ohne
sich um uns zu kümmern, und kniete an dem Leichnam nieder. Sie sah ihn lange
an, ohne

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